Hirsch (September)

Der Hirsch im Parnassus medicinalis 1663

Schnell, stark und heilsam

Vom Hirsch (bekannt ist etwa der Rothirsch, Cervus elaphus, Familie Cervidae) sind erstaunlich viele Arzneimittel abgeleitet. Zum Teil lassen sie sich aus dem überlieferten Wissen ableiten. Im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung berichtet Plinius Secundus der Ältere über die Charaktereigenschaften dieses Tieres, aber auch über sehr verschiedene medizinische Anwendungen. Wie in dieser Zeit üblich, berichtet das entsprechende Kapitel  seiner "Naturgeschichte" (Naturalis historia) auch über die vermuteten Charaktereigenschaften. Auch Hirsche, behauptet er, hätten "ihre Tücke", denn schließlich flöhen sie vor Hunden zu den Menschen, wenn sie von diesen verfolgt würden. Daraus ist zu erkennen, dass sie auch damals schon beliebte Jagdobjekte waren. Außerdem hegten sie eine spezielle Feindschaft mit Schlangen und versteckten sich, bevor sie ihr Geweih ablegten, da sie zu diesem Zeitpunkt wehrlos seien. Wie Plinius berichtet im 12. Jahrhundert  Hildegard von Bingen vom Wissen dieser Tiere über heilende Eigenschaften bestimmter Kräuter, die sie gezielt zu sich nähmen. Bei Hildegard schaffen es Hirsche sogar, sich durch den Verzehr giftiger Unken selbst zu reinigen. "Dieser Wurm ist weiß und nicht rot und enthält ein bestimmtes Gift, durch das jener Hirsch gereinigt wird. Die Unke hält sich in sandigem Wasser auf und kann ohne Wasser nicht existieren, und darin sucht und findet sie der Hirsch. Wenn er sie gefunden hat, röhrt er laut, so dass jene Unke davon so belästigt wird, dass sie sogar gegen diesen Hirsch ihren Atem ausstößt. Aber der Hirsch erhebt mehr und mehr seine Stimme, röhrt und sperrt das Maul auf, und schließlich schlängelt sich jene Unke gleichsam vor Zorn und Erschöpfung in sein Maul und kommt in seinen Bauch."

 

Johann Schröders Arzneischatz 1685

Auch für den Mediziner und Schrifsteller Johann Joachim Becher (1663) stehen seine Eigenschaften zunächst im Vordergrund: “Der Hirsch ist ein schnelles Thier / kan in die hundert jahre leben / lauffet gewaltsam schnell / wirfft sein Geweyh Jährlich in dem April-Monat ab…”. Dieser jährliche Wechsel des Geweihs war ein Grund, weshalb der Hirsch für besonderer Kräfte fähig gehalten wurde, und auch im 17. Jahrhundert wurde diskutiert ob das Schlangen- oder Krötenessen und die alljährige Verjüngung, jedenfalls des Geweihs, miteinander zusammenhängen könnten. Bechers Zeitgenosse Johann Schröder diskutiert noch andere Möglchkeiten: einige glaubten, “ die Hörner ablegende Kraft rühre von dem Geniessen und Essen der Schlangen her. Denn die Hirsch essen Schlangen daß sie wiederumb jung werden. Andere halten davor, das Geblüt der Hirschen effervescire [gäre] nach Geniessung der Schlangen / daher wachsen darnach Würmer.” Diese führten dann zum Abfallen des Geweihs. Auch die Meinung, dass nach allmählichem Aushärten der Hörner diese vom Körper keine Nahrung mehr aufnähmen und deshalb abfielen, wurde vertreten. Aus heutiger Sicht bedingt der im Jahresverlauf schwankende Hormonspiegel  Wachstum und Wechsel des Geweihs.

Cornu cervi raspatum. Foto: Marquardt

Neun Stücke aus dem Hirschkörper

Der zitierte Johann Joachim Becher leitet jedes seiner Kapitel mit einem Gedicht ein. Aus heutiger Sicht ist das für ein medizinische Lehrbuch ungewöhnlich. Vielleicht wollte er sich als Poet profilieren. Oder sollten die Reime seiner Leserschaft das Memorieren erleichtern? Er nennt neun Bestandteile des Tierkörpers, die arzneilich verwendet werden und reimt: "Der Hirsch das schnelle Thier / das so gewaltsam laufft / Neun Stücke man von ihm in Apothecken kaufft: / Das Horn und Hertzenbein / Fett / Thränen / Marck und Blut / Die Huffe / das Gemächt / die Hirschen-Stein sind gut." 

Von den ersten beiden wird im Folgenden vor allem die Rede sein. - Das Hirschhorn selbst konnte geraspelt werden, danach wurde es eventuell weiterverarbeitet. In der Frühen Neuzeit galt es als schweißtreibend und fäulniswidrig. Ihm wurde auch eine Wirkung bei bestimmten Infektionskrankheiten zugeschrieben sowie aufgrund der gedrehten Form der Raspeln bei Epilepsie. Wohl aus dieser Überlegung heraus ist eine größere Zahl von "anti-epileptischen" Medikamenten mit geraspelten Substanzen überliefert, denen große Wirksamkeit zugeschrieben wurde.

 

Rezeptur für Markgrafenpulver 1741

Markgrafenpulver nicht nur gegen Epilepsie

Eines der vielen Mittel, die gegen Epilepsie angewandt wurden, war das Markgrafenpulver, Pulvis marchionis, eine Mischung aus verschiedenen Zutaten, unter denen regelmäßig Hirschhorn auftauchte, außerdem zumeist Pfingstrosenwurzeln, Misteln, Elchsklauen, Tierkohle, Korallen und Perlen. Außer bei Epilepsie wurde es insbesondere bei  Kinderkrankheiten sowie bei Erwachsenen in Schmerzzuständen eingesetzt, wie die Pharmacopoea Wirtenbergica empfiehlt. Das Pulver fehlte nicht in der Haupapotheke der Familie Mozart; es ist überliefert, dass Wolfgang Amadeus Mozart in verschiedenen Krankheiten dait behandelt wurde.

Aus dem geraspelten und zerstückelten Hirschhorn wurden verschiedene Präparate angefertigt, das "calcinierte" (dazu gleich), ein Magisterium, das durch in starker Säure aufgelöste und später präzipiertes Hirschhorn erzeugt wurde, oder eine Gallerte. Auch ein Öl oder ein Salz konnte aus Hirschhorn mit verschiedenen Methoden hergestellt werden.

Cornu cervi ustum. Foto: Marquardt

Hirschhorn wurde aber ebenso häufig calciniert, d.h. gebrannt. Dazu wurde das HIrschhorn zerkleinert und in einem verschlossenen Töpfer-Ofen erhitzt, bis es weiß wurde. Wie aus dem nicht calcinierten Hirschhorn, wurden danach verschiedene Präparate verfertigt, z.B. das Cornu cervi praeparatum. Laut Becher hatte es folgende Wirkungen:  Es hat "eine trocknende Krafft / widerstehet der Fäulung / stillet die Bauchflüss / vertreibet die Würm / trebeit den Schweiß". Auch dieses Präparat wurde vorzugsweise Kindern verabreicht.

Jedoch waren Hirschhorn-Präparate auch bei Erwachsenen durchaus beliebt, wie ein Blick in die Akten den Wolfenbütteler Hofapotheke zwischen 1576 und 1708 belegt. Diesen Einblick ermöglicht die von Gabriele Wacker erstellte Datenbank, zusamengetragen aus der Registratur der Apotheke. Empfänger waren neben Kindern auch viele Erwachsene, wie im nächsten Abschnitt erläutert wird.

Herbert Wietschoreck hat 1962 historische Herstellungsanleitungen für destillierte Hirschhornpräparate analysiert und nachpräpariert. Hierbei wurde das Ausgangsmaterial trocken destilliert und dabei  zu Öl oder Spiritus verarbeitet oder aber wieder getrocknet, so dass Pulver oder die damals so genannten Salze entstanden.

Der heutige Ausdruck "Hirschhornsalz" erinnert noch an diese Verfahren, wobei hier vor allem die calcinierte (d.h. veraschte) Version gemeint ist. Der Name dürfte Einigen unter der Rubrik "Backtriebmittel" noch geläufig sein, allerdings wird das heutige "Hirsschhornsalz" nicht mehr aus dem tierischen Ausgangsmaterial hergestellt. Das enthaltene Ammonionhydrogencarbonat kann in der Tat die Funktion eines solchen "Backpulvers" erfüllen. Daneben enthält das calcinierte HIrschhorn, wie übrigens auch der Knochen, noch Calcium-, Magnesium- und Phosphorverbindungen.

Ossa de corde cervi.Foto: Marquardt

Herzstärkendes aus dem Herzen

Zubereitungen aus Hirschhorn hatten den Vorteil, dass das Ausgangsmaterial relativ gut zugänglich war, auch wenn die Präparate selbst Zeit und Geschick erforderten. Der Körper des Hirsches enthält aber noch ein besonderes Element, dem seit dem Mittelalter große Wertschätzung entgegengebracht wurde, nämlich die Hirschherzknochen. Einige muskuläre Organe von Tieren neigen dazu, an bestimmten Stellen zu verknöchern, und das trifft für die Herzscheidewand des Hirsches zu, in der sich häufig kleine, oft kreuzförmige Knöchelchen bilden. Der arabische Mediziner Ibn Baytar kennt sie schon und nennt sie "den wahren Bezoar", was bedeutet, dass sie vorbeugend oder auch im Akutfall gegen Vergiftung wirken können (s. unser Objekt des Monats zum Bezoar). Es "widersteht Giften, stärkt Herz und Gemüt". Diese giftwidrige Eigenschaft findet sich auch in der pharmazeutischen Literatur der westlichen Welt wieder. Nach Johann Joachim Becher hat es noch weitere gute Eigenschaften: "ist eine Herzstärckende Artzney / beschützt selbiges vor Gifft / ist auch den schwangeren Weibern gut / denn es stärcket die Geburt." Becher erwähnt, dass man auch aus diesen Knochen eine Gallerte machen kann, die noch wirksamer als die rohe sei.

Für einen einzigen der kleinen Knochen zahlte man in Braunschweiger Apotheken 1721 einen Mariengroschen und 4 Pfennige, für 1 Scrupel (ca.1,22 g) der präparierten Substanz bereits 2 Mariengroschen. Ein Lot (ca. 16 g) geraspeltes Hirschhorn war dagegen schon für 6 Mariengroschen zu haben. Wenn man aber eine der präparierten Arzneien haben wollte, ging der Preis entsprechend hoch. Zum Vergleich: Preise für getrockenete Kräuter bewegten sich meist im Pfennig-Bereich, Pfeffer-Arten um 1 Mariengroschen pro Lot.

Preisliste für Hirschpräparate 1721

Zwischen 1576 und 1706 wurden vom Wolfenbütteler Hof insgesamt 96 Mal Hirschhornpräparate angefordert. In 52 Fällen handelte es sich um gebranntes Hirschhorn oder Hirschhornsalz, in 20 Fällen wurde das gebrannte Hirschhorn oder Hirschhornsalz zusätzlich verrieben. Dreimal wurde geraspeltes Hirschhorn und dreimal HIrschhornwasser angefordert, siebenmal ein Spiritus. Die Zubereitung der sonstigen Lieferungen ist nicht deutlich zu erkennen. Gerade das gebrannte Hirschhorn wurde in relativ großen Mengen angefordert, beispielsweise zu einer halben Unze (ca. 15 Gramm). In einem Fall könnte die zusätzliche Lieferung von Kandis und Gewürzen auf die Zubereitung von Gebäck hinweisen. Nur aus drei Lieferungen konnten Hirschherz-Präparate identifiziert werden. Die Lieferungen erstrecken sich über den gesamten Zeitraum, für den Gabriele Wacker die Aktivitäten der Hofapotheke in einer Datenbank der Herzog August-Bibliothek dokumentiert hat.

 

Magie hält lange vor

Während die Präparate im 18. Jahrhundert noch recht geläufig waren, verschwanden sie nach 1870 aus den Pharmakopöen. Die Idee, dass sich eine Übersäuerung des Körpers günstig beeinflussen lasse, war im 18. Jahrhundert in den Vordergrund getreten. Hirschhorn-Gelatine bleibt aber auch bis zum  Anfang des 20. Jahrhunderts nachweisbar.

2006 erschien ein Krimi  der französischen Autorin Fred Vargas, in dem es um die Wiederentdeckung der wunderbaren Eigenschaften von Hirschherzknochen geht (französisch: Dans les bois éternels, deutsch: Die dritte Jungfrau; hierzu ein Buchblog). Im Zentrum der Geschichte steht ein Arzneibuch, das im 17. Jahrhundert auf den Index gesetzt wurde, weil es die arzneiliche Verwendung von Reliquien empfiehlt, um Wunderheilungen zu erzielen und vor allem, um ein ewiges Leben zu erlangen. Ganz zu Anfang wird eine Szene in einer Dorfkneipe in der Normandie erzählt. Ein Hirsch ist auf brutale Weise ermordet worden. Wie sich später herausstellt, hatte es die Tatperson auf das Knöchelchen in seinem Herzen abgesehen. Viel Spaß beim Lesen! 

Bettina Wahrig

 

Dieses Stück ist zum 25.8. 2025 Thomas Meinecke gewidmet, der unsere Konversationen über Reliquien und Wunder sogar dokumentiert hat (Odenwald, 2024).