Brechnuss (Mai)

Semen Strychni (Brechnüsse. Foto: A. Marquardt

Gefahr nicht nur für Mäuse

Die unscheinbaren, gräulich-braunen Samen von ca. 3 cm Durchmesser und 3-4 mm Dicke sind am Rand dicker, werden dann ganz flach und haben in der Mitte eine Vertiefung sowie eine kleine Erhabenheit. Sie sind von feinen Furchen durchzogen. Diese Form hat ihnen wohl den Namen "Krähenaugen" eingebracht, was erst einmal nicht sehr gefährlich klingt, eher ihre harte und schrumpelige Qualität ausdrückt. So gibt das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache als Synonym einer zweiten Bedeutung auch "Hühneraugen" aus, aber das hat nichts mit der Droge "nux vomica" zu tun. Die alltagssprachliche Bezeichnung spielt auf die Gestalt an, ob der wissenschaftliche Name, übersetzt als "Brechnuss", deren Wirkung ausdrückt, bleibt zu klären.

 

Wunderbare Besitztümer

Die Stammpflanze, Strychnos nux vomica, gehört zu einer in tropischen Regionen weit verbreiteten Gattung. Der Baum ist immergrün, wird bis zu 25 m hoch und trägt rote Früchte mit den bereits beschriebenen Samen. Gehandelt wurden sie vor allem vom südlichen Indien aus - von der Malabarküste bis hin nach Ceylon. Bereits das Inventar einer Apotheke von Zwickau um 1500 verzeichnete "Kraen Eugeln", ebenso wie Inventare und Taxen aus dem 16. und 17. Jahrhundert.

Der von Hendrik von Reede tot Drakenstein zusammengetragene 12 bändige, illustrierte "Hortus malabarius..." enthält Hinweise auf zwei verwandte Strychnos-Arten, aus denen Brechnüsse gewonnen wurden. Das Besondere des Werks ist, dass ferne Reichtümer für die Kolonialstaaten nutzbar gemacht werden sollten, wobei gleichzeitig das Wissen der Einheimischen auch zu Wort kommt. Für die Samen wird als Verwendung nur angegeben, dass sie gegen Schlangenbisse helfen könnten, allerdings wird für die anderen Pflanzenteile eine große Palette von Indikationen angebeten, z.B. Kopfschmerzen und Rheuma. Obwohl selbst giftig, wurde den Brechnüssen nachgesagt, dass sie die Menschen vor Vergiftung, Seuchen und dem Biss giftiger Tiere schützen könnten.

Caniram aus Hortus indicus malabaricus Bd 1 1678
Erstes deutschsprachiges Lehrbuch der Toxikologie

Nach 1753 setzte sich in Europa die Linnésche Pflanzenklassifikation durch. Viele der Kolonnialmächte des 17. und 18. Jahrhunderts förderten aktiv die Kenntnisnahme möglicher nützlicher Produkte ihrer Kolonien, unter anderem Arzneistoffe. Angesichts der zunehmenden Präsenz exotischer Substanezen auf dem Markt schienen Versuche vielversprechend, die feine Grenzlinie zwischen arzneilicher und giftiger Wirkung genauer zu bestimmen.

Ende des 18. Jahrhunderts kam nämlich die Idee auf, dass stark giftige Stoffe bei bislang unheilbaren Krankheiten vielleicht helfen könnten, wenn man nur die richtige Dosis fände. Angeregt u.a. durch seinen Wiener Kollegen Anton Störck, trug Joseph Jacob Plenck, Autor des ersten deutschsprachigen Lehrbuchs der Toxikologie, entsprechende Informationen zusammen. Er hatte allerdings wohl sehr unzuverlässige Informanten über diese Pflanze und keine eigenen Erfahrungen mit diesem Gift, als er 1785 behauptete, die Samen seien Menschen nur in relativ großer Dosis schädlich, was angesichts ihrer enormen Giftigkeit verwundert.

 

                                                                                                                                 Strychnin als Chance für Physiologen

Ende des 18. Jahrhunderts gelang es zunehmend, Pflanzeninhaltsstoffe mit chemischen Mitteln zu isolieren. Kurz nach 1800 wurde mit dem Morphin das erste Alkaloid isoliert (aus Opium; siehe unser ODM). Das Verfahren ließ sich auf viele exotische Arznei- und Giftpflanzen ausweiten, und so entstand 1818 auch das Strychnin in einem französischen Labor. Bis zu seiner Strukturaufklärung sollten allerdings nochmal mehr als 100 Jahre vergehen. Neben Strychnin enthalten Brechnüsse auch das ebenfalls giftige Brucin.

Unter anderen führte der Physiologe François Magendie (1783-1855) systematische Versuche an großen Mengen von Tieren durch und verglich diese klinischen Experimenten. Forschende stellten nun spezifische Fragen an die neuen giftigen Substanzen. Wo und wie nahm der Körper bestimmte Gifte auf, welchen Weg legten diese im Organismus zurück, wie wurden sie ausgeschieden und an welchen seiner Strukturen setzten sie an? Wie konnte man diese Ergebnisse wieder mit den Beobachtungen an Kranken und bei Vergiftungen verbinden?

Magendie dachte 1826, dass die Wirkung von Strychnin selektiv auf die vom Rückenmark gesteuerten motorischen Nerven wirke, nicht etwa auf die sensiblen Nerven, oder aufs Gehirn oder die Nerven im Verdauungssystem. Damit war es logisch, dass er Therapieversuche mit Strychnin im Fall schlaffer Lähmungen empfahl. Aufgrund des extrem bitteren Geschmacks firmierte es gelegentlich aber auch unter den Magenmitteln, jedenfalls nicht unter den Brechmitteln, wie der Name suggerierte.

Streck- und Beugekrampf (links, männlicher Frosch), Streckkrampf (rechs, weiblicher Frosch)

Blockierte Bremsen

Mit dem Frosch als hauptsächliches Versuchstier ging die Tendenz der Forschenden also dahin, Strychnin als Nervengift zu betrachten. Doch stellte sich heraus, dass Magendie noch zu einf ach dachte: Das Gift steigert zwar die Erregbarkeit der motorischen (Bewegungs-)Nerven, aber das geschieht nicht direkt, sondern indirekt: Aus heutiger Sicht wird nämlich die Aktivität der Bewegungsnerven durch bestimmte andere Nerven, sog. Interneurone, reguliert, die eine Überreaktion verhindern. also hemmend wirken. So wird vermieden, dass z.B. gleichzeitig ein Beuge- und ein Streckmuskel aktiviert wird. Das Nervensystem hat also eingebaute Bremsen, die normalerweise Überreaktionen verhindern. Werden diese regulierenden Nervenzellen aber geblockt, so erfolgt daraus eine überschießende Reaktion mit Tetanus und Krämpfen. 

Der Nobelpreisträger Sir Henry Dale vermutete 1932, dass diese Blockade durch eine spezielle chemische Substanz erfolgt, und ihm gab der Pharmakologe Emil Starkenstein 1938 Recht. In den 1950er und 1960er Jahren setzte sich dieser Ansatz durch. Heute sprechen wir hier von Überträgersubstanzen (Neurotransmittern), die für bestimmte Arten von Nerven an deren Schaltstellen (Synapsen) spezifisch sind.

Strychnin blockiert Zwischen-Nerven, Agonist und Antagonist werden gleichzeitig aktiviert (rechte Seite des Schemas).

Die spektakuläre Strychnin-Wirkung - wiederkehrende Krämpfe der gesamten Muskulatur - war also keine Erregung von Nerven, sondern physiologisch gesehen eine Hemmung, aus heutiger Sicht die Blockade der Überträgersubstanz Glycin an den zwischengeschalteten Nerven (im Schema blau). Das Rätsel der Strychnin-Wirkung trug also zum Verständnis der Funktion von Überträgersubstanzen und Rezeptoren bei, eines zentralen Begriffs der heutigen Pharmakologie. Strychnin war nur eines von vielen Alkaloiden, die nach und nach isoliert wurden. Obwohl ihre therapeutische Anwendung fragwürdig oder unsicher blieb, vermittelten sie wichtige Einsichten in die Funktion des normalen Organismus.

Triticum venenatum (Giftweizen) Foto: A. Marquardt

Viel Gift für kleine Quälgeister

Außerhalb der physiologischen und chemischen Labore des 19. und 20. Jahrhunderts spielten Brechnüsse aber noch eine andere Rolle: Interessant waren die Samen nämlich allemal als Ratten- und Mäusegift. Sie wurden pulverisiert, mit Fetten oder Ölen vermischt und zu Ködern geformt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ersetzten sie langsam Arsen. Dieses wurde vor allem noch als Fliegengift verwendet (s. unser Objekt des Monats zum Fliegenstein). Autoren priesen die Brechnüsse als Mordgift gegen lästige, aber auch gegen wertvolle, pelztragende Mitgeschöpfe, eine Anwendung, die auch von der Württembergischen Pharmakopöe 1741 genannt wird. In der Region Braunschweig vertrieb die Firma Buchler neben Chinin, dem Alkaloid der Chinarinde, auch Strychnin. Mit Strychnin vergiftete Weizenkörner (als Köder) gab es auch in der Apotheke. Um zu vermeiden, dass die Körner versehentlich von Menschen verzehrt wurden, war es vorgeschrieben, sie zu färben. Ein Beispiel hierfür findet sich in der Arzneimittelhistorischen Sammlung Braunschweig.

Die Giftbücher von Apotheken dokumentieren die regelmäßige Abgabe von Giften. Neben der als Rattenbekämpfungsmittel besonders beliebten Phosphorlatwerge wurden Strychninbutter und weiterhin auch Krähenaugen zur Bekämpfung von Mäusen häufig abgegeben. Die Empfänger mussten den Empfang quittieren und versichern, dass sie das Gift gut verwahren und nur für den angewendeten Zweck verwenden würden.

Giftschein Strychningruetze 1851 Foto: A. Marquardt

Giftige Geheimnisse, Pelze und das Geld der Anderen

Was allerdings nicht immer der Fall war. 1856 stand der zum Tode verurteilte Mediziner und Versicherungsbetrüger William Palmer auf dem Schaffott und sprach seine letzten Worte: "Ich bin nicht schuldig, Cook mit Strychnin vergiftet zu haben." Das Opfer war unter den für Strychnin-Vergiftung typischen Krämpfen nach einem gemeinsamen Mahl mit seinem vermuteten Mörder zu Tode gekommen. Aber ein chemischer Giftnachweis war diesem Zeitpunkt noch nicht möglich, ein Corpus delicti fehlte. Hatte Palmer lediglich darauf angespielt, dass er ein anderes Gift benutzt hatte oder war er tatsächlich unschuldig? Das lässt sich im Nachhinein nicht mehr klären.

Abgabe von Strychninweizen 1896 Foto: A. Marquardt

In den 1920er Jahren kannte der Toxikologe Louis Lewin bereits mehrere zuverlässige chemische Nachweismethoden, aber aufgrund der großen umgesetzten Mengen kam er zu einem drastischen Urteil:

"Vergiftungen mit Strychnos oder Strychnin ereigneten sich früher selten, jetzt, zumal zum Mordzweck, häufig. Auch im Auslande, weil Strychnin für Tierfang viel gebraucht wird und dadurch in vieler Hände gelangt. Es wird damit Massenmord von Pelztieren, z.B. in Ostasien, geübt. So handeln mongolische Jäger von russischen Kleinhändlern deutsches Strychnin in unglaublichen Mengen ein. In Urga sah ein Reisender in einer kleinen Bude einen Schrank, 1 Meter breit, 2 1/2 Meter hoch, dichtgefüllt mit dem Alkaloid. Durch die Erhältlichkeit desselben für den gleichen Zweck kamen auch in Deutschland Vergiftungen vor. Ich kenne allein aus dem Jahr 1925 zwölf Mordversuche und erfolgreiche Morde, für die das Gift, z.B. zu 2 g, in den von dem Opfer benutzten Salznapf oder in das Kaffeegetränk geschüttet worden war."

Strychninpräparate lt. Preistaxe 1949

Langelebiges Tonikum

Doch trotz der bekannten Gefahren verschwand Strychnin nicht ganz aus den Medizinschränken des 19. und 20. Jahrhunderts. Pharmakologie-Lehrbücher sahen es als Analeptikum oder Tonikum mit einem Schwerpunkt auf Lähmungen und allgemeinen Schwächezuständen sowie als Amarum (Bitterstoffdroge). Strychninum nitricum lässt sich bis 1980 in deutschen Arzneibüchern (Rote Liste) nachweisen; bereits 1954 sieht es aber das Hauschildtsche Lehrbuch nurmehr lediglich als Bittermittel und Stomachicum, und der einflussreiche "Mutschler" bezeichnet das Mittel 1970 als obsolet.

Strychninum nitricum (Buchler) Foto: A. Marquardt

Das langlebigste Strychninpräparat war dasjenige von Buchler. Bleibt zu ergänzen, dass Nux vomica bis heute in der Homöopathie ein Rolle spielt, es sind aber bisher keine Vergiftungen durch die Anwendung bekannt geworden.

... pharmazeutische Raffinesse: Strychnin mit Bromkalium

Mit dem Plot einer raffinierten Strychnin-Vergiftung gab Agatha Christie übrigens ihren Einstand in der Welt der Krimi-Literatur. Lesen Sie hier eine Zusammenfassung der "Myterious Affair at Styles" (1917/1920), wo eine Strychnin-Bromid-Lösung eine alte Dame nicht stärkt, sondern zum genau vorher kalkulierten Zeitpunkt unter die Erde befördert. Lesen Sie selbst nach, wie das funktionieren konnte.

 

Text: Bettina Wahrig

Erschließung, Recherche und Fotos zur Arzneimittelhistorischen Sammlung Braunschweig: Anette Marquardt