Datura (November)

Datura stramonium (gemeiner Stechapfel) im Arzneipflanzengarten Braunschweig

Stechapfel, Nachtschatten und die Anfänge der experimentellen Arzneimittelforschung

Der gemeine Stechapfel gehört zur großen Familie der Nachtschattengewächse, lateinisch Solanaceen. Diese enthalten regelmäßig giftige Alkaloide, allerdings nicht immer in allen Pflanzenteilen, so dass wir etwa die Früchte der Tomate und die (gegarten) Knollen der Kartoffel gefahrlos essen können. Die drei Alkaloide, die uns hier interessieren, sind sogenannte Tropanalkaloide, sie heißen Atropin, Hyoscyamin und Scopolamin und wirken als Nervengifte. Es gibt viele Datura-Arten, auf deren Herkunft und Unterscheidung sich Forschende erst im Laufe der Geschichte einigten.

Datura stramonium Frucht und Samen

Tropan-Alkaloide sind u.a. in drei wichtigen Gift- und Arzneipflanzen enthalten: der Tollkirsche (Atropa belladonna), dem Stechapfel (Datura) und dem Bilsenkraut (Hyoscyamus). Der Name "Tropanalkaloide" ist abgeleitet von Atropin, demjenigen Wirkstoff der Tollkirsche, der zuerst 1831 in Reinform gewonnen wurde. "Tropanring" heißt auch der Teil des Moleküls, an dem die für Alkaloide typische Stickstoffgruppe hängt (es sieht im Schema wie ein Sessel aus).

Der lateinische Name "Atropa belladonna" wiederum leitet sich wahrscheinlich von Atropos ab, der Parze, die in der griechischen Mythologie den Lebensfaden abschneidet, und "bella donna" heißt auf Italienisch "schöne Frau", da der Pflanzensaft die Pupillen erweitert und die Iris schwarz wirken lässt. Warum frau schön ist, wenn sie durch die verlorene Akkomodation nicht mehr scharf sieht, bleibt allerdings ein Rätsel.

Alle drei genannten Pflanzen enthalten diese Stoffe in unterschiedlichen Proportionen. Hyoscyamin ist ein  Ringmolekül, das in zwei spiegelsymmetrischen Formen vorliegen kann. Man spricht von einer linksdrehenden und einer rechtsdrehenden Version, je nachdem, wie sie sich im polarisierten Licht verhalten. Hycosamin ist die linksdrehende Version. Atropin ist das Racemat, die Mischung von links- und-rechtsdrehenden Molekülen. Hyoscyamin und Atropin unterscheiden sich also nur durch den Anteil der links- bzw. rechtsdrehenden Version. Scopolamin - das dritte Tropanalkaloid - besitzt ein zusätzliches Sauerstoff-Brückenatom im Tropan-Gerüst. Alle drei genannte Pflanzen enthalten zusätzlich noch Scopolamin, je nach Pflanze in unterschiedlichen Mengenverhältnissen. Die Pflanzen sind giftig - also ist Vorsicht geboten, besonders im Umgang mit Kindern.

Atropa belladonna im Arzneipflanzengarten der TU BS
Links: S-(–)-Hyoscyamin (optisch linksdrehend) Atropin: Racemat ("Mischung") aus S-(–) und R-(+)-Hyoscyamin Rechts: Scopolamin
Stechapfel in Olearius 1674

Exotische Pflanzen bereichern unsere Chronique scandaleuse

Ende des 17. Jahrhunderts kommentierte Adam Olearius eine Datura-Art, die aus Indien stamme. Aus der Abbildung lässt sich nicht genau sagen, ob es sich um die von dort eingeführte Datura metel, auch Datura indica genannt oder aber den heute hier häufigeren "gemeinen Stechapfel", d.h. Datura stramonium, handelte: Abgebildet sei

"die Datura Indica, Staude / Blume und Frucht/ [...] der Same wird in Indien von zweyerley Leuten gemißbrauchet / nemlich von den geilen Weibern und dann von Dieben / oder ungetrewen Dienern im Hause / dann der jenige / welchem der Same Datura in Essen oder oder Trincken ist beygebracht worden / wird auff etliche Stunden seines Verstandes beraubet / daß / ob er schon wachet / von nichts weiß / unterdessen können die Frawen wie auch die Diebe in gegenwart des Mannes ihre Lust und Willen haben / und wann der Mann erwachet / meynet er / er habe nur einen süssen Schlaff gethan [...] Es wird dieser Saame auch in Teutschland gepflanzet und reiff [...] ob es aber die Krafft und Wirckung wie in Indien hat / stünde zu probiren. Wäre aber nicht gut für unser Land.“ (Olearius 1674, S. 29-30)"

Dass der indischen Bevölkerung besonders viel Betrügerei und auch sexuelle Maßlosigkeit zugetraut wird, ist ein typischen Beispiel für den sogenannten Orientalismus, eine Überbewertung des Fremden - mit einer Mischung aus phantasierter Wunscherfüllung und gleichzeitiger Abwertung der Anderen.

Datura metel im Arzneipflanzengarten Braunschweig

Von Datura stramonium war ab dem späten 18. Jahrhundert bekannt, dass sie aus Lateinamerika nach Europa gekommen war. Der gelehrte Schriftsteller Johann Samuel Halle musste feststellen, dass sich die von Olearius referierten Bräuche auch hierzulande etabliert hatten. "Feile Dirnen", gar Mörder, bedienten sich der Pflanze. Obwohl Datura jetzt aus von einem anderen Kontinent kam, blieben die Erzählungen ähnlich. "Schon längst ist der Stechapfel als eine berufene Giftpflanze, und als betäubendes Gift durch eine Menge trauriger Fälle an Menschen und Vieh bezeichnet worden: Alle Theile dieser bösen und häufig wachsenden Pflanze, Kraut, Blume, vorzüglich die in Wasser, Milch, oder Wein abgekochte Saamen, haben eine giftige schädliche Eigenschaft. Sogar die bloßen Ausdünstungen dieser Theile in Zimmern, vornemlich das Abtrocknen des Saamens kann schädlich und tödlich. werden. Manche feile Dirne schläferte damit ihr Schlachtopfer ein, um es nachher zu berauben. Die Diebe der lüneburgischen goldnen Tafel bedienten sich desselben im Brandtwein um die Wächter einzuschläfern" (S. 61)

Halle warnte auch davor, dass Stechapfel-Konsum unruhig oder gar wahnsinnig machen könnte. Ob für den Raub der Goldenen Tafel, also des berühmten, im 15. Jahrhundert entstandenen, reich mit Gold und Edelsteinen verzierten kostbaren Altars aus Lüneburg tatsächlich die Wächter durch die Bande des berüchtigten, 1699 dann grausam hingerichteten Nickel List mit Stechapfel-Sud eingeschläfert wurden, bevor die Bande den riesigen Altar aus der Kirche schaffte, müsste allerdings erst erforscht werden. Wenn überhaupt ein Schlaftrunk im Spiel war, könnte auch die sehr verbreitete Tollkirsche verwendet worden sein.

Einige Fälle, in denen die schlafmachende Wirkung der Pflanzen oder ihrer Inhaltsstoffe zu kriminellen Zwecken gebraucht wurden, sind ins Repertoire der berühmten Kriminalfälle eingegangen, so etwa derjenige von Belle Ellemore. Dazu demnächst mehr in einer kommenden Geschichte aus der Bibliothek.

Störck 1763

Vom Gift zum neuartigen Arzneistoff...

Anfang des 18. Jahrhunderts hatte Anton von Störck (1731-1802), kaiserlicher Leibmedikus und Medizinprofessor in Wien, den Eindruck, dass es möglich sein müsste, aus bekannten Giftpflanzen Arzneimittel zu machen und begann über deren mögliche Anwendungsgebiete zur forschen. Zur Dosisfindung und bevor er seine Zubereitung an Patienten anwendete, führte er Selbstexperimente durch. Er bereitete ein Extrakt aus den Blättern und Samen des gemeinen Stechapfels zu. Der Konsum verursachte ihm lediglich leichten Kopfschmerz. Störck überlegte: "Wenn der Stechapfel, indem er Unordnungen in dem Gemüth anrichtet, die gesunden wahnwitzig macht, kann man nicht den Versuch wagen, ob er nicht denen, die wirklich wahnwitzig und verrückt sind, durch die Veränderung der Begriffe und des Gehirns das Gemüth wieder in Ordnung bringen [...] werde?' " Störck S.10.

Störck will mehrere Patient:innen von verschiedenen Formen des Irreseins geheilt haben. Er glaubte auch, Epilepsien beeinflussen zu können. Auch wenn es aus heutiger Sicht eher zweifelhaft ist, dass die Besserung der Patient:innen auf seine Therapie zurückging, so ist seine Vorsicht beim Dosieren bemerkenswert. Störcks Therapieversuche betrafen Fälle, in denen er mit bekannten Mitteln nicht weiterkam; und diese Konzentration auf bisher nicht oder schwer behandelbare Krankheiten machte einen Bericht auch für andere interessant.

Im Journal von Christoph Wilhelm Hufeland empfahl Samuel Hahnemann einen Auszug aus der Pflanze bei aufgeregten psychisch Kranken. 1839 berichtet Krünitz' Ökonomische Enzyklopädie von weiteren Anwendungsgebieten. Neben der innerlichen Anwendung bei Krämpfen und Erregungszuständen wurden z.B. Blätter in Milch eingeweicht und auf Geschwüre aufgelegt. Trotzdem hätte der Autor dieses Lexikonartikels die Pflanze am liebsten ausgerottet gesehen, da er auf ihren häufigen Missbrauch als Gift hinwies. Besonders beunruhigend sei auch, dass Datura-Samen versehentlich oder aufgrund von Verfälschungen der Droge häufig mit Schwarzkümmelsamen verwechselt würden, mit oft fatalen Konsequenzen.

Atropinsulfat

... und zum Forschungsinstrument

Die Versuche einer therapeutischen Anwendung von Belladonna und Datura blieben unsicher, obwohl weitere Anwendungen in Gebrauch kamen, wie z.B. das Rauchen der getrockneten Blätter bei Asthma, was die Europäer übrigens aus dem indischen Arzneiwissen übernahmen. 1831 und 1833 wurden als erste Tropanalkaloide Atropin und Hyoscyamin chemisch isoliert, und sie wurden schnell zu einem wichtigen Werkzeug der sich gerade etablierenden toxikologischen und tierphysiologischen Forschung.

Tierversuche zur Untersuchung der spezifischen Wirkungen von Nervengiften begannen mit Curare und Strychnin (s. dazu unsere "Objekte"). Zunächst kam das willkürliche Nervensystem in den Fokus. Aber die Frage blieb, wie körperliche Funktionen wie Verdauung, Herzschlag, Atmung oder Sekretionen geregelt wurden. Gegenläufig wirkende Nerven, sog. Antagonisten, schienen hier anzugreifen. Gifte wie Atropin oder Hyoscyamin wurden zu Instrumenten, um den Mechanismus durch selektive Hemmung einzelner Funktionen zu verstehen. So konnte beispielsweise das Pilzgift Muscarin die Aktivität eines in Nährlösung schlagenden isolierten Kaninchenherzen stoppens. Die Wirkung blieb aber aus, wenn sich in der Lösung Atropin befand. Das Alkaloid Physostigmin wiederum hob die Atropinwirkung auf.

Atropinum sulfuricum

Anfang des 20. Jahrhunderts wuchsen die Kenntnisse über das komplizierte Wechselspiel zwischen den vegetativen Nerven, körpereigenen Stoffen und verschiedenen Rezeptoren zu einem komplexen Bild zusammen. Nicht nur kontrollieren und ergänzen sich die beiden "Gegenspieler" sympathische und parasympathische Nerven gegenseitig, das Spiel wird weiterhin geregelt durch spezifische Überträgersubstanzen. Innerhalb des vegetativen Nervensystems sind verschiedene körpereigene Überträgerstoffe für die Nervenimpulse verantwortlich, die wiederum durch verschiedene Medikamente spezifisch beeinflusst werden können. Später wurde dann von Rezeptoren gesprochen, und damit ergab sich: Atropin, Scopolamin und Hyoscyamin hemmen die Impulsübertragung an einer großen Gruppe von Rezeptoren des parasympathischen Nervensystems. Im Beitrag zu Strychnin (Brechnuss) wurde das Prinzip der Übertragersubstanzen schon erläutert. Die Tropanalkaloide Atropin, Hyoscyamin und Scopolamin hemmen die Wirkung des natürlichen Überträgerstoffs Acetylcholin, so dass ankommende Nervenimpulse nicht mehr weitergeleitet werden. Da sie dies vor allem an den Wirkorten des Parasympathikus tun, wirken sie "parasympatholytisch", d.h. sie hemmen dessen Effekte, z.B. Speichelsekretion, Kontraktion der Bronchien, die Verengung der Pupille durch den entsprechenden Muskel usw.. Die Wirkung der sympathischen Nerven überwiegt - die Pupille wird weit, die Bronchialmuskulatur entspannt sich.

Scopolaminum hydrochloricum

Maße und Kontrollen

Ende des 18. Jahrhunderts lässt Schiller in den "Räubern" den grausamen Franz Moor überlegen: Könnte die Wissenschaft nicht mit Giften die Schläge eines Herzens im Voraus abzählen und dem Puls zu einem bestimmten Zeitpunkt sagen: "Bis hierher und nicht weiter!"? (Zweiter Akt, erste Szene)

Die Idee eines Giftmordes "nach der Uhr" hat sich nicht realisiert, wohl aber die einer Medikation mit viel genaueren Dosier- und Analyseinstrumenten. Aufgrund dieser Möglichkeiten verblieben Atropin, Hyoscyamin und Scopolamin auch im 19. und 20. Jahrhundert im Arzneischatz.

Geschichtlich überliefert und weiterhin bekannt sind Indikationen zum Erweitern der Pupillen, bei Atemwegserkrankungen sowie bei Schmerzen im Magen-Darmtrakt und Blasenbeschwerden (hier vor allem für Scopolamin-Derivate), auch bei Reisekrankheit. Heute befinden sich häufig chemisch abgewandelte Tropanalkaloide in den Präparaten. Wie gering die benötigten Dosen der reinen Alkaloide sind, kann man an den winzigen Verpackungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts aus unserer Sammlung sehen.

Bereits in der Antike war die Kombination von Opium, Bilsenkraut (Hyoscyamin) und Wein als Betäubungsmittel bei Operationen im Einsatz. Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte sich die Inhalations-Narkose. Da eine gefürchtete Nebenwirkung der Äther- oder Chloroformnarkose ein plötzlicher Herzstillstand war, kam ein paar Jahrzehnte später die einleitende Gabe von Morphin und Scopolamin in Gebrauch, um dieser Gefahr vorzubeugen. Hinweise darauf finden sich noch in Pharmakologie-Lehrbüchern des 21. Jahrhunderts, auch wenn in der Anästhesie längst auch andere Wege gegangen werden.

 

Bettina Wahrig