Oleum Philosophorum (Juni)

Oleum Philosophorum, Inv. Nr.2023. Foto: Marquardt

Was haben Philosophen mit Ölivenöl zu tun?

Beim Betreten des "Alchemie-Labors" der Pharmazie- und Wissenschafts-geschichte in Braunschweig findet man keine spinnenumwobenen Geheimnisse, sondern die Spuren der Rekonstruktion alchemischen oder besser chymischen Wissens über Arzneimittelherstellung. Anhand des ersten Objekts, das bei einem Besuch vielleicht auch Ihre Neugier wecken könnte, lassen sich die Verbindungen zwischen der chymischen Vergangenheit, den Anfängen der pharmazeutischen Chemie und heute erkennen. Mir zumindest fiel beim ersten Besuch eine 26 cm hohe Enghals-Flasche mit Schliffstopfen auf. Sie besteht aus Braunglas und ist auf einer aufgemalten Kartusche als "Oleum Philosoph." beschriftet. Ein dunkel wirkender, dickflüssiger Inhalt ist zu erkennen.

Wie gerieten überhaupt Philosophen in die Geschichte der Pharmazie und was hatten sie mit der Herstellung von Öl zu tun? Antworten auf diese und ähnliche Fragen haben die Mitglieder der Arbeitsgruppe von Wolfgang Schneider gesucht, indem sie Herstellungsvorschriften für Arzneimittel aus fünf Jahrhunderten ausgruben und sie exemplarisch nachpräparierten. Dafür war das Alchemielabor so eingerichtet, dass traditionelle Herstellungswege begangen und mit modernen Analysemethoden kombiniert werden konnten. Zum Vergleich dienten Proben historischer Arzneimittel aus Museen und Sammlungen. Heute bietet das Labor eine kleine Schau zur Arzneimittelgeschichte, die für thematisch variierende Führungen genutzt wird. Für die Ausstellung hat Gabriele Wacker einen wichtigen Anfang gemacht, und Anette Marquardt hat die Sammlung systematisch erforscht, dokumentiert und nach aktuellen Gesichtspunkten geordnet. Auch das Philosophen-Öl kommt in ihrer Dokumentation vor.

Das hier besprochene Präparat ist auf das 20. Jahrhundert datiert. Obwohl seine Herkunft nicht zweifelsfrei überliefert ist, wissen wir, wer sich besonders intensiv mit ihm beschäftigt hat: Der Apotheker Herbert Wietschoreck analysierte im Rahmen seiner Promotion bei Wolfgang Schneider die Überlieferung in der Arzneibuchliteratur des 16.-19. Jahrhunderts und präparierte dieses "Philosophenöl" nach. Die beiden wesentlichen Bestandteile sind Olivenöl und Ziegelsteine, was näher erläutert werden soll.

Das Oleum Philosophorum ist schon in den frühesten europäischen Pharmakopöen beschrieben worden. Es hieß auch Oleum de lateribus, also Öl aus den Steinen, verdeutscht als Ziegelstein-Öl. Das Zedler-Lexikon gibt Mitte des 18. Jahrhunderts noch die Synonyme "Oleum divinum", "Oleum benedictum", "Oleum Sanctum" und "Oleum perfectae artis" an. Ein früher Eintrag findet sich im "Ricettario Fiorentino" von 1498, der ersten landes-sprachlichen Pharmakopöe und einer der ersten städtischen Pharmakopöen überhaupt.

Rezept Olium Philosophorum
Oleum Philosophorum im Ricettario Fiorentino 1498
Oleum de Lateribus Mesue von Valerius Cordus 1598, zuerst 1546

Ein halbes Jahrhundert später gibt der Arzt und Naturforscher Valerius Cordus (1515-1544) das Rezept detailliert bekannt. Ein alter roten Ziegelstein sollte in Stücke gebrochen, auf Kohlen erhitzt und danach mit Olivenöl übergossen werden. Wenn dieses aufgesaugt war, musste der Ansatz weiter zerkleinert und einer (trockenen) Destillation unterworfen werden, wobei ein Öl überging, das gut verschlossen aufbewahrt werden sollte. Varianten der Überlieferung betreffen die Frage, ob der heiße Ziegelstein vor oder nach dem Übergießen mit dem Öl zerkleinert wird. Wie Wietschoreck analysierte, dienten die zerkleinerten Ziegel als Katalysatoren für die chemischen Umsetzungen des Olivenöls, sie vergrößerten die Oberfläche und beugten einem Aufschäumen des Ansatzes vor (Wietschorek 1962, 165f).
Dem destillierten Öl wurde eine heiße Qualität zugeschrieben, es sollte bei Epilepsie, Gelenkschmerzen und Milzleiden helfen, auch Würmer austreiben und besonders "kalten" Giften entgegenwirken. "Kalt" und "heiß" ist hier im Sinne der Vier-Elementen-Lehre zu verstehen. Laut dieser im 5. Jh. vor Chr. entstandenen Lehre konstitutierten die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft unsere Welt. Die Qualitäten kalt, warm, trocken und feucht beeinflussten die Zusammensetzung und Dynamik der Objekte und Stoffe sowie auch - vermittelt über dessen "Säfte" - unseres Körpers. Heiße und trockene Substanzen wie das destillierte Öl sollten also bei Krankheiten helfen, die von einem Übermaß an Kälte und auch Feuchtigkeit gekennzeichnet waren. Die Indikation "Epilepsie" tauchte besonders häufig bei  schwierig und kompliziert herzustellenden Stoffen auf, vielleicht weil ihre Behandlung als herausfordernd und das Ergebnis als unsicher galt. - Die Zuschreibung, dass die Vorschrift von Mesuë stammt, "adelt" das Rezept zusätzlich und rückt es in die Tradition der Medizinschule von Salerno. Wer sich hinter diesem Autor verbirgt, ist unklar, diskutiert werden zu diesem Namen Autoren und Schriften zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert (vgl. Schmitz 1998; Marquardt 2022), auch die erste Zuschreibung der Rezeptur zu Mesuë bleibt noch zu erforschen.

Pietro Andrea Mattioli: Kreutterbuch, 1590

Adel haftet aber auch derjenigen Pflanze an, deren Öl hier verwendet werden soll, dem Ölbaum, Olea europaea L.Pietro Andrea Mattioli (1501-1577), Arzt, Botaniker und Übersetzer wichtiger Texte aus der Antike, machte das griechisch-antike Wissen über den Olivenbaum als einer der ersten einem lesekundigen, aber nicht unbedingt lateinkundigen Publikum jenseits der Alpen bekannt. Mattioli beschreibt nicht nur ausführlich die botanischen und medizinischen Charakteristika des Ölbaums, sondern betont auch dessen symbolische und rituelle Bedeutung: "Der Oelbaum ist bey den Alten ein symbolum, das ist / ein zeichen oder gemerk deß Friedens gewesen. Dann in Olympia hat man vor zeiten die treffenlichen Helden wann sie siegten / unnd widerum Fried auffrichteten / mit Oelbaumkräntzen geziert. So hat auch ein Taub ein Oelzweig bracht nach der Sündflut / zum zeichen daß wider Fried war auff Erden. Genesis cap. 8."

Er kann sich dabei auf mehrere Autoren der griechischen und römischen Antike beziehen, die in medizinischer und pharmazeutischer Hinsicht das Öl des Olivenbaums als allen anderen überlegen bezeichnen. Die Indikationen, die etwa Pedanius Dioskurides im ersten Jahrhundert n. Chr. dem Olivenöl zuschreibt, finden sich alle hier wieder. Die Wirkung auf den Verdauungstrakt, aber auch die Nützlichkeit als Antidot bei Vergiftung, wird dem Olivenöl lange Zeit zugeschrieben.

Dem Olivenöl wurde im Laufe der Geschichte ein gleichbleibendes Interesse als Arzneimittel wie auch als Nahrungsmittel entgegengebracht. Olivenöl war Bestandteil sehr vieler Rezepturen und auch deshalb in Apotheken erhältlich. Für den innerlichen Gebrauch war als arzneilicher Bestandteil nur das Öl der ersten Pressung erlaubt. Bei Pflastern und Salben konnte auch "Baumöl" (Öl zweiter und dritter Pressung) verwendet werden, gerade für Salben wurde aber doch oft das beste Öl empfohlen.

Öl als Arzneimittel ist auch im Briefwechsel zwischen Gotthold Ephraim Lessing und Eva König präsent. Diese bat den Verlobten um Übersendung einer Salbe nach Hamburg für die Erfrierungen ihrer Tochter. Offensichtlich hatte während eines Besuchs von König und ihren Kindern eine Wolfenbütteler Apotheke hier Abhilfe gewusst. Lessing schrieb: "Auch habe ich Malchen nicht vergessen: aber ich habe nicht nötig, die Salbe erst zu schicken: Sie können sie leicht selbst machen. Die Hauptsache kömmt darauf an, dass sie sich an den erfrornen Fingern recht oft mit ganz kaltem Wasser oder lieber mit Schnee wäscht und sodann die Hände mit der Salbe überstreicht und Handschuh darüber zieht. Die Salbe ist nichts, als Provenzeröl [provençalisches Olivenöl] mit weißem Wachs über einem gelinden Kohlfeuer gut vermischt." (20.11. 1771, Briefwechsel S. 97). Ein solches Rezept findet sich z.B. in der Preußischen Pharmakopöe von 1799.

Weißes Wachs. Foto Marquardt
Salbenrezepte mit Olivenöl und Wachs, 1799
Etikett, Apotheke Lehrte

Eine Sammlung von Etiketten aus der Apotheke Lehrte vom Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt, dass Apotheken Öl, vermutlich hier auch Olivenöl, im Angebot hatten. Neben Wein und Branntwein - auch dazu finden sich Belege in der Lehrter Etikettensammlung - waren Fette und Öle Bestandteile von Arzneien, die nicht nur die Apotheker:innen*, sondern auch die Kund:innen herstellen konnten. Olivenöl musste importiert werden, auch dies ein Grund für seine Anwesenheit in Apotheken, die ihre Kunden oft mit importierten Waren (etwa auch Kaffee und Zucker) versorgten. Es war für kosmetische und arzneiliche Zwecke vielseitig verwendbar.

Emplastrum Cerussae, Bleipflaster mit Olivenöl

Ein weiterer Vorteil der Verwendung von Olivenöl in Salben war, dass es aromatische Öle, z.B. aus Kräutern oder Blüten, gut in sich aufnehmen konnte. In der Arzneimittelhistorischen Sammlung ist ein gutes Dutzend solcher Öle vorhanden. Neben destillierten aetherischen Ölen spielte aromatisiertes Olivenöl auch nach der Weiterentwicklung von Destillationstechniken im Spätmittelalter eine wichtige Rolle. Bis heute stellen Haushalte etwa Lorbeeröl aus den getrockneten Blättern und Olivenöl her. Der erwähnte Ausschnitt aus der Preußischen Pharmakopoe von 1799 enthält nicht nur die Herstellungsanweisung für die Salbe, die Lessing seiner Verlobten empfiehlt. - Im Rezept darunter wird eine ebenfalls in dieser Zeit beliebte Salbe beschrieben, die zusätzlich zum Olivenöl noch Bleiweiß (basisches Bleicarbonat, lat. Cerussa) enthält. Das heute als giftig bezeichnete Bleiweiß war in der frühen Neuzeit in zahlreichen medizinischen und auch in kosmetischen Salben präsent.

Auch in Pflaster-Rezepten findet sich häufig Olivenöl als Bestandteil, etwa im bereits bei Galen beschriebenen Bleiweiß-Pflaster, Emplastrum Cerussae, auch genannt "Froschlaich-Pflaster", unserem Objekt des Monats vom Mai 2023. Das rechts oben abgebildete Rezept ist dem Dieterichschen pharmazeutischen Manual von 1888 entnommen.

Tieröl, ersetzte ab 1800 zunehmend Ol. Philosoph. Foto Marquardt

Spätere Arzneimittellehren beschränkten das Philosophenöl auf die äußere Anwendung und empfahlen es vor allem in Fällen, wo Entzündungen zu bekämpfen waren. Da bei der 'philosophischen' Bearbeitung des Olivenöls, d.h. bei seiner Destillation unter starker Erhitzung, Zersetzungsprodukte entstehen, die durchaus desinfizierend wirken können, ist das verständlich. Die Spaltprodukte der trockenen Destillation sind zum Teil aber auch toxisch. Besonders zu erwähnen ist hier das Acrolein, dessen Entstehung auch heute zu befürchten ist, wenn ein gutes, kaltgepresstes Ölivenöl zum Kurzbraten in der heißen Pfanne missbraucht wird. Die Existenz solcher Produkte konnte die erwähnte Arbeit Wietschorecks mit anschließender Analyse demonstrieren.

Während die Rezeptur in zahlreichen Pharmakopöen des 17. Jahrhunderts nachweisbar ist, lässt das Interesse Ende des 18. Jahrhunderts nach, im 19. Jahrhundert wird es für obsolet erklärt und verschwindet langsam aus den Rezeptbüchern. Anciennität und Philosophenadel sind vergessen, im Namen dominiert der Ziegelstein; so ist es in Zedlers Enzyklopädie Mitte des 18. Jahrhunderts im Eintrag "Ziegel-Öl" finden. Um 1900 kann das Oleum de lateribus aus den verschiedensten Ölen hergestellt werden, es wird als "dickes braunes teerartiges Öl mit einem brenzlichen Geruche" beschrieben und kann durch eine Mischung aus Tieröl, Petroleum und Rüböl ersetzt werden (Realenzyklopädie der gesamten Pharmazie 1907, Eintrag Oleum lateritium). Gehörte das Philosophenöl zu den ersten empyrematischen Ölen, so verlor sich das Interesse an ihm auch deshalb, weil andere empyrematische Öle es ersetzten, u.a. das aus Tierkadavern gewonnene Tieröl (hier im Bild), aber auch die neuen Teer-bzw. Steinöl (Petroleum!)-Produkte.

"Wunderbalsam" zum tierärztlichen Gebrauch

Als Wissensbestand, der "lange zögert, eh er untergeht," zeigt sich das Oleum Philosophorum noch in einer Tierarznei von 1900, geschmückt mit dem Namen "Balsamum mirabile" oder "Wunderbalsam" eine Einreibung für Tiere aus Galban-Harz (einer Ferula-Art), einer tüchtigen Portion Quecksilber, Alkohol, Walnussöl und Oleum Philosophorum, das gleichwertig neben dem Oleum Petrae (Petroleum, also einem Ersatz für das alte empyrematische Öl) genannt wird. Vor Spott und Hohn war das altehrwürdige Öl bereits 1866 nicht sicher. So wurde es in der Gartenlaube ins Sortiment der Charlatane eingeordnet: "Der Eine hat Wurmsamen, der Andere Bilsensamen gegen Zahnweh feil, ein Dritter Philosophenöl und die „Quintessenz, womit man bald reich werden kann“, ein Vierter oleum Tassi barbassi wider den Frost."

Was haben aber Philosophen mit Ziegelsteinen zu tun? Der Ziegel ist Teil des für chymisches Arbeiten so zentralen Ofens, wobei das Wort "Philosoph" hier auch als "Alchemist" verstanden werden kann. Ein destilliertes Produkt sollte die Stärke des Ursprungssubstanz erhöhen und deren Wirkprinzipien aufreinigen und konzentrieren. Gleichzeitig sollte sich wohl die Stärke des Ziegels in diejenige des Medikaments umsetzen, wie Erika Hickel und Anette Marquardt im Anschluss an Wietschoreck betonen. "Philosophisch" einerseits und "alchemisch" oder "chymisch" andererseits sind also bedeutungsverwandt. Die Degradation des ernährungsphysiologisch wertvollen und für die Arzneimittelherstellung lange Zeit zentralen nativen Olivenöls führte zwar pharmakologisch erst einmal nur in die Toxikologie. Aber es ist doch interessant, dass die trockene Destillation von Öl, und damit der Weg vom nativen zum empyrematischen Öl, schon viele Jahrhunderte lang bekannt war, bevor dieses Verfahren für die chemisch-technische Erschließung von Teerprodukten so wichtig wurde.

Damit wären die Flasche und das Labor, in dem das Re-enactment der Philosophenöl-Herstellung stattgefunden hat, eine Allegorie dafür, dass auch Geschichte keine abgeschlossenen Kapitel kennt, wobei wir sie (außer im Labormaßstab) lieber nicht wiederholen, aber sehr wohl aus ihr lernen sollten.

 

Bettina Wahrig