Styrax: "Baumtränen" mit einer langen und verzweigten Geschichte
Eine Schachtel mit sechs kleinen Reagenzgläsern und diversen Kartuschen aus Karton, beschriftet "Schneider Harze", ist Teil der von Anette Marquardt bereits hervorragend aufgearbeiteten und dokumentierten "Sammlung Schneider", die von ihr inzwischen zur "Arzneimittelhistorischen Sammlung Braunschweig" erweitert worden ist.
Objekt des Monats Oktober ist eines dieser Gläschen, beschriftet "Sumatra Benzoe". Wer den Namen nachschlägt, findet heraus: Es handelt sich um Styrax, genauer das Harz von "Styrax benzoin," Mitglied einer großen Gruppe von Sträuchern und Bäumen, die duftende Harze abgeben. Weitere historisch wichtige Stammpflanzen für Styrax sind Styrax officinalis und Liquidambar orientalis.
Der wichtigste Duftstoff von Styrax ist Benzoësäure; je nach Ursprung und Stammpflanze kommen weitere Inhaltsstoffe dazu. Die hier gezeigte "Sumatra Benzoe" dürfte Zimtsäure enthalten, was sie von anderen Styrax-Arten unterscheidet.
Aber was sind überhaupt Harze und warum sind sie Teil der Sammlung? Hier soll gleich hinzugefügt werden, dass die Arzneimittelhistorische Sammlung zusätzlich zu denen im Kasten eine beträchtliche Zahl arzneilich verwendeter Harz besitzt. Harze werden hauptsächlich aus Pflanzen gewonnen. Sie sind kurz nach der Gewinnung entweder flüssig oder halbflüssig und klebrig. Natürliche Harze, die für die Medizin und Pharmazie von Bedeutung sind, enthalten Duftstoffe, und das ist auch einer der wichtigsten Gründe für die Verwendung so zahlreicher Harze aus den unterschiedlichsten Organismen in Pharmazie und Medizin, aber auch darüber hinaus.
Dioskurides kennt mehrere weitere Harze, die er in aufeinanderfolgenden Kapiteln behandelt, darunter auch die heute noch geläufigsten, Myrrhe, Weihrauch und Mastix. Die Bezeichnung von Harzen als Träne lässt sich aus der Gewinnung verstehen: Wenn die Rinde oder Zweige eingeritzt werden, schwitzen die Pflanzen das Harz aus. Vielleicht mag man auch an die Geschichte von Myrrha denken, wie etwa Ovid sie erzählt. Um der Strafe für den Inzest mit ihrem Vater zu entgehen, flieht sie und wird schließlich in einen Baum - eine Myrrhe - verwandelt. Ovid beschreibt, wie sich ihr Schmerz in Tränen und im Aufreißen der Baumrinde ausdrückt.
Laut Dioskurides besitzt der Styrax erwärmende, erweichende und verdauungsfördernde Kräfte. Er werde bei Husten, Katarrh, Erkältungen, Verstopfungen, Verhärtungen und zur Unterstützung der Gebärmutter eingesetzt. Außerdem soll er die Menstruation fördern, wenn er in Form von Zäpfchen angewendet wird. Ebenso könne er Salben beigemischt werden. Das in Syrien aus ihm bereitete Styraxsalböl erwärme und erweiche den Körper, es könne jedoch auch Kopfschmerzen und Gliederschwere oder sogar den Tod verursachen. Krankheiten wurden von der Antike bis in die Frühe Neuzeit nach der Vier-Elementen- und der Vier-Säfte-Lehre behandelt- Die erwärmenden, erweichenden und verdauungsfördernden Eigenschaften waren immer dann vorteilhaft, wenn im Körper ein Übermaß von Kälte oder Feuchtigkeit vermutet wurde.
Styrax, Storax und Balsam im Mittelalter
In der arabischen Medizin wurde Styrax bzw. Storax in vielen Rezepten verwendet. Dies können wir in den Werken aus dem 9. und 12. Jahrhundert bei Sabur ibn Sahl und Ibn at-Tilmīd sehen. Zwei Rezepte sollen hier näher betrachtet werden (in der rechten Spalte). Beide wurden vor allem zur Behandlung für bestimmte Beschwerden eingesetzt, die die Autoren hier angeben. Dabei ist jedoch wieder zu berücksichtigen, dass Storax wegen seiner erwärmenden Eigenschaften auch bei mehreren Indikationen gleichzeitig Anwendung fand. Das erste Rezept aus dem 9. Jahrhundert beschreibt Storaxöl, das entweder mit festem oder flüssigem Storax zubereitet wird. Es stammt aus dem Werk von Sabur ibn Sahl und soll bei der Behandlung von Tumoren hilfreich sein.
Das zweite Rezept stammt aus dem 12. Jahrhundert und soll hartnäckigen Schleim aus der Brust lösen. Es findet sich in dem Werk von Ibn at-Tilmīd. Das äußerlich angewandte Öl und das innerlich angewandte Lohoch (eine Art Leckarznei) sind mit ihren Indikationen (Rheuma bzw. Atemwegsprobleme) typisch.
1. Storaxöl (Sabur Ibn Sahl): „Die Verschreibung des Storaxöls, das gegen Rheuma hilft, erwärmt die kalten Organe, nämlich die Blase und die Nieren, und löst verhärtete Tumore.
Nimm ein qisṭ [~609g] gewaschenes Olivenöl oder Sesamöl und drei Ūqīya [~33g] flüssiges Storax, laut einer anderen Quelle festes Storax.
Gib es in einen Topf, koche es bei geringer Hitze, bis das Öl die Wirkung des Storax aufgenommen hat, nimm es dann vom Feuer und seihe es in einen Behälter ab.”
2. Lohoch (Ibn at-Tilmīd): „Ein Lohoch, das hartnäckigen Schleim aus der Brust löst; Reine Myrrhe, flüssiges Storax und die Wurzel der himmelblauen Iris, jeweils drei Dirham [3.125g]. Verflüssige insgesamt einen halben Liter klaren Rosinenhonig, Feigenhonig und Zucker, vermische alles und nimm davon einen Löffel pro Nacht ein.”
Etwa zur selben Zeit (12. Jahrhundert) berichtet die Äbtissin Hildegard von Bingen über Balsame, hier ist ebenfalls Styraxharz gemeint. Sie sagt: ,,Balsam ist von königlicher Natur und sehr heiß und feucht und ist, damit seine Stärke dem Menschen nicht schadet, in solcher Mischung und mit so großer Vorsicht für Arzneien zu handhaben, wie hohe Herrschaften verehrt und gefürchtet werden müssen, damit man nicht ihren Zorn erregt." Dazu auch zwei Rezepte:
1. gegen Fieber: ,,Wer große Fieber im Magen hat, nehme ein wenig Balsam und füge reichlich Olivenöl dazu und mehr Hirschmark als es von diesem Öl ist und mache daraus Salbe und reibe sich damit um den Magen herum ein, und es nimmt die Fieber von ihm weil, die Hitze des Balsams, mit der Wärme des Olivenöls und mit der Wärme und dem Fett des Hirschmarkes vermischt, die warmen und kalten Fieber vom Menschen vertreibt."
2. gegen "Wahnsinn": ,,Auch wer wahnsinnig ist nehme diese Salbe und reibe sich die Schläfen und Nacken damit ein, aber so dass sie weder Scheitel noch Gehirn berührt, damit diese nicht durch deren Stärke geschädigt werden und er kehrt zu Verstand und Gesundheit zurück. Schläfen und Hinterhaupt sollen deshalb mit dieser Salbe eingerieben werden, weil ihre Äderchen zum Scheitel streben; wenn aber der Scheitel damit eingerieben würde, würde (die Salbe) dort zu große Hitze und Aufruhr verursachen. Aber Schläfen und Hinterhaupt werden eingerieben, damit diese Salbe die schlechten Säfte von Scheitel und Gehirn nach unten absteigen lässt."
Die Rezepte aus östlichen und westlichen Quellen sind durchaus vergleichbar, auch wenn vielleicht nicht immer genau dieselben Duftharze verwendet wurden, die aber vor allem durch arabische Händler in den Westen kamen. Wahrscheinlich lernte Ibn Baṭṭūṭa als Erster auf seiner Indienreise (1324–1349) den Styrax Benzoe kennen. Nach der Entdeckung des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama (1497) entwickelte sich das Harz dieser Pflanze auch für Europäer zu einem wichtigen Handelsartikel. Zunächst waren es insbesondere portugiesische Apotheker, die das Harz verwendeten, später handelten auch Italiener damit, und es wurde in ganz Europa verbreitet. Eine ausführlichere Beschreibung von Styrax Benzoe lieferte schließlich Dryander im Jahr 1787.
Mit Duftharzen gegen den Pesthauch: Das Beispiel Wolfenbüttel
Während der Pestepidemien in Norddeutschland spielten Harze für die Wolfenbütteler fürstliche Familie eine wichtige Rolle. Auch die Residenzstadt und das Herzogtum waren stark betroffen.
Lange Zeit war die Ursache der Pest unbekannt, erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde erkannt, dass sie von einem Bakterium ausgelöst wird. In der Frühen Neuzeit dachte man jedoch, dass die Krankheit von schädlichen Gerüchen und Dünsten kam, die sich durch fauligen Geruch verraten konnten. Seit der Antike war auch der apfelförmige Riechball (Pomum Ambrae, eingedeuscht: Pomander) bekannt. Er bestand aus Ölen, Harzen und Pflanzengummi, gemischt mit Moschus (s. den Beitrag dazu im März 2025) und Ambra (eine kostbare, wohlriechende Substanz aus dem Pottwal). Selbst Leichenträger bekamen diese Duftbälle, um sich gegen den Geruch der Verstorbenen zu schützen.
Für Haushalte und öffentliche Orte wie Kirchen lieferten die Apotheken regelmäßig Harze wie Bernstein und Weihrauch. Beim Verbrennen entwickelt Storax einen Duft, der an Vanille und Zimt erinnert. Während der Pestwelle von 1577 waren diese Räuchermittel sogar nur der fürstlichen Familie vorbehalten, so kostbar waren diese. Dem Volk empfahl man einfache Mittel, zum Beispiel einen Schwamm, der in Pestessig (eine Duftstoffmischung aus Kräutern und Essig) getränkt und in einem kleinen Drahtkorb mitgetragen wurde. Styrax Benzoe und Storax, sei es allein oder in Kombination mit anderen Substanzen, gehörten zur häufig von der Hofapotheke abgeforderten Räuchermittel.
Ein besonders aufschlussreiches Beispiel ist ein Bisamapfel, der 1608 an Herzog Heinrich Julius geliefert wurde. Dabei handelte es sich um einen Duftball (Pomander), der aus Storax calamita, Ladanum (ein stark klebriges, wohlriechendes Harz), Ambra und Moschus hergestellt war. Er kostete 4 Taler und 26 Mariengroschen, was zeigt, wie wertvoll solche Präparate waren. (Zum Vergleich: Die damals verschriebenen Medikamente waren meist unter 1 Taler zu haben.)
Weitere Rezepte belegen ebenfalls die breite Verwendung. Für die Einbalsamierung des 1626 verstorbenen Herzog Christian wurde eine Mischung aus Storax calamita mit weiteren Harzen (Myrrhe, Aloe, Mastix, Ambra , Moschus) angefordert, um die frühzeitige Verwesung des Leichnams zu verhindern.
Verwendung als Kosmetikprodukt
In der frühen Neuzeit strebten Frauen nach einem jugendlichen, weißen und makellosen Gesicht. Ein besonders wichtiges Präparat war das Lac Virginis (Jungfernmilch), das mit wenigen Ausnahmen in fast allen kosmetischen Rezepten vom 16. bis ins 18. Jahrhundert auftauchte. Der Name verweist sowohl auf das jugendliche Idealbild als auch auf die milchige Konsistenz.
In den Arzneibüchern der Frühen Neuzeit enthielten etliche Rezepte das gesundheitsschädliche Bleiazetat (Bleiweiß) mit dem Ziel der Hautaufhellung. Ab dem 18. Jahrhundert fand die Benzoetinktur als bleifreie Alternative zunehmende Verbreitung. Sie wurde mit Rosenwasser vermischt und als milchiges Gesichtswasser verwendet. In dieser Form war sie ein erfrischendes und wohlriechendes Schönheitswasser, das zugleich eine gewisse aufhellende Wirkung versprach. Unter anderem daher wurde sie auch als „Magistery of Benjamin“ bezeichnet. Mit Zusätzen wie Moschus, Ambra oder Zibet erhielt die Zubereitung einen luxuriösen Charakter und versprach zusätzlich Reinheit und einen angenehmen Geruch.
Auch im 19. Jahrhundert blieb die Jungfernmilch auf Benzoebasis in Gebrauch. Benzoe findet sich beispielsweise in Kombination mit Balsamum tolutanum (einem anderen Styraxharz aus Tolú im heutigen Columbien) und Rosenwasser. Und auch im 20. Jahrhundert erwähnt Hagers Handbuch ihre Verwendung weiterhin als Gesichtswasser. Allerdings offenbarte sich schließlich ein Nachteil: Aufgrund des hohen Alkoholgehalts trockneten die Tinkturen die Haut stark aus, sodass sie spröde, rissig und runzlig wurde.
19. und 20. Jahrhundert
Bereits um 1830 beschreibt Geiger, dass die früher gebräuchlichen Handelsformen nach und nach ihre Bedeutung verloren. Neue Handelswege und veränderte Bedürfnisse führten dazu, dass alte Bezeichnungen und Kategorisierungen kaum noch verwendet wurden. Parallel dazu setzte eine genauere wissenschaftliche Erfassung und taxonomische Einordnung der Pflanzen ein.
Laut Schneider verlor der innerliche Einsatz an Bedeutung, es blieb die Anwendung als Duftmittel, in Räucherungen und in Räucherpulvern, Räucherkerzen oder als Zusatz zu Ofenlacken. Hager hebt im 20. Jahrhundert vor allem den angenehmen Duft hervor, der Styrax für Kosmetik und Parfümerie attraktiv machte.
Ab dem späten 19. Jahrhundert spielte unser Styrax alsp fast nur noch in der Duft- und Kosmetikindustrie eine Rolle, während die medizinische Nutzung stark zurückging. Das muss aber nicht so bleiben. Nicht nur die populäre "alternativmedizinische" Aromatherapie interessiert sich für Duftharze, auch durch die Erforschung der molekularen Basis des Geruchssinns sind neue Ideen für medizinische Anwendungen entstanden. Andere hier nicht erwähnte Harze, besonders Weihrauch, haben vermehrte Aufmerksamkeit erfahren. Die süd- und mittelamerikanischen Duftharze behielten für die Wundversorgung bis ins späte 20. Jahrhundert Bedeutung; dies gilt für Tolúbalsam, besonders aber für Perubalsam, der bis heute in Wundsalben vorhanden ist, selbst wenn er aufgrund seiner Fähigkeit, Allergien zu verursachen, kritisch gesehen wird.
Tuğba Özadam und Bettina Wahrig
Anmerkung: Dieses "Objekt des Monats" fällt durch seine Länge etwas aus dem Rahmen, denn es wurde von unserem Gast aus Ankara erstellt und ist gleichzeitig der Abschluss ihres zweimonatigen Forschungsaufenthalts (Internship) im Rahmen von Erasmus+. Die Betreuung des Projekts hatten Ayman Atat und Bettina Wahrig