Apéritif aus der Apotheke: Vermouth
Das Objekt des Monats Juli, die Confectio cinae, sah aus wie ein Glas voller Süßigkeiten, entpuppte sich bei näherer Betrachtung jedoch als wirksames Arzneimittel. Das Objekt dieses Monats zeigt, dass es in einer Apotheke des frühen 20. Jahrhunderts allerdings tatsächlich sehr viel mehr als nur Arzneimittel zu kaufen gab. In einer kleinen Holzkiste, die ursprünglich Pflaster enthielt, hat uns die Familie Nieschlag eine Sammlung von Flaschenetiketten aus der Ratsapotheke Lehrte überlassen.
Dass die Apotheke Olivenöl abfüllte und mit einem eigens gedruckten Etikett versah, wurde bereits beim Objekt des Monats „Philosophenöl” erwähnt. Im 19. Jahrhundert stellten Apotheken im Vergleich zu heute viel mehr eigene Produkte her und gaben auch deutlich mehr Substanzen nach individueller Verordnung ab. Das erklärt, warum eine große Anzahl vorgedruckter Etiketten vorrätig gehalten wurde. Wie sich hier zeigt, wurden diese jedoch nicht immer für medizinische Zwecke verwendet.
Eine Sammlung von Flaschenetiketten
In der Kiste finden sich Etiketten für Flüssigkeiten, die wir heute im Supermarkt kaufen: Apfelmost, Himbeersaft und Öl konnte man in der Lehrter Apotheke einzeln abgefüllt erhalten. Daneben vertrieb die Apotheke auch Weine und sogar Weinbrand. Neben Vermouth war auch Portwein zu haben. Diese Produkte wurden nicht in der Apotheke hergestellt, sondern in großen Mengen eingekauft und dann individuell für die Kundinnen und Kunden abgefüllt. Apothekenübliche, äußerlich anzuwendende alkoholhaltige Medizinalprodukte wie Franzbranntwein und „Haar-Spiritus” gehörten natürlich auch dazu. Äußerlich angewandt wurde wohl auch ein Pferdebalsam.
Alkohol aus der Apotheke
Dieses Thema hat eine lange Geschichte. Schon in der Materia medica des Dioskurides (1. Jh. n. Chr.) wird Wein als Heilmittel erwähnt, allerdings wird auch vor den Folgen des übermäßigen Genusses gewarnt. Wein war außerdem ein wichtiges Extraktionsmittel für Kräuter. Pulverisierte Substanzen konnten unter anderem in Wein aufgelöst, Kräuter darin ausgezogen werden. Für die Angehörigen des Hofstaates in Wolfenbüttel wurden zwischen 1576 und 1709 mehr als 300 Mal Weine oder Zutaten für Weine angefordert. Soweit dies im Nachhinein zu eruieren ist, dürfte ein erheblicher Teil davon zum Abführen oder zur Stärkung des Magens gedient haben. Seit der Antike galt Wein als hilfreich bei Magen-Darm-Beschwerden. Besonders Rot- und Süßweine galten als nahrhaft. Diese schon lange bestehende Möglichkeit, Wein aus der Apotheke zu beziehen, konnte aber auch zu Konflikten führen. Dem Schöppenstedter Apotheker etwa wurde 1769 verboten, "an Sonn- und Feiertagen während des Gottesdienstes Likör, Wein und Branntwein auszuschenken. Viele Einwohner der Stadt Schöppenstedt hielten sich anscheinend während des ganzen Gottesdienstes in der Apotheke auf," wie Gabriele Beisswanger in ihrer Arbeit über das Braunschweig-Wolfenbütteler Apothekenwesen im 18. Jahrhundert berichtet. Doch trotz gelegentlicher Einschränkungen verschwanden die alkoholischen Getränke nicht aus den Apotheken. Noch in Hagers Kommentar zur Deutschen Pharmakopöe (1886) findet sich ein eigenes Kapitel über in der Apotheke abzugebende bzw. für die Verwendung zu arzneilichen Zwecken geeignete Weine.
Hochgeschätzt und hochprozentig
Die pharmazeutische Technik, mittels Destillation höher konzentrierten Alkohol herzustellen, stammt aus dem arabischen Spätmittelalter und verbreitete sich über die im Mittelmeerraum aufblühenden Medizinschulen. Oft dienten Pflanzen als Grundlage, die in Wein mazeriert und dann destilliert oder aber erst vergoren und anschließend über mehrere Stufen destilliert wurden. Im Zeitalter der Chemiatrie gelangten vermehrt Vorschriften für Destillationen in die Arzneibücher. Neben den „Spiritus” bzw. „Aquae” finden sich in den Arzneibüchern zahlreiche Rezepte für Arzneiweine. Diese wurden meist dadurch hergestellt, dass die zu extrahierenden Pflanzen eine Weile im Wein ziehen mussten, bevor der Sud erhitzt, dabei häufig konzentriert und etwa durch Abseihen von den restlichen Pflanzenteilen befreit wurde. Herzogin Hedwig von Braunschweig-Lüneburg (1540–1602), die selbst pharmazeutisch tätig war, ließ in ihrer Apotheke ihren eigenen Aquavit (Aqua Vitae) destillieren, der auf Basis vieler Arzneidrogen hergestellt wurde. Wie Gabriele Wacker feststellte, diente ein solches Produkt geradezu universellen Zwecken: Es wurde nicht nur als Arznei verwendet, sondern auch als Genussmittel – gelegentlich noch spätabends oder gleich wieder am Morgen von der Apotheke angefordert – und konnte sogar ein wertvolles Geschenk sein, wie Gabriele Wacker dokumentiert hat. Auch die Lehrter Apotheke führte hochprozentige Getränke.
Vermouth und Wermut
Es soll aber noch etwas zur Herkunft des oben erwähnten „Vermouth” gesagt werden. Die Sorte, die die Apotheke in Lehrte führte, stammt aus Turin. Vermouth ist ein Aperitiv- oder Dessertwein mit Pflanzenextrakten und einem Alkoholgehalt von ca. 15 %. Im Jahr 1886 wird „Vino Vermuth di Turino” in Hagers Handbuch der pharmazeutischen Praxis als „guter italienischer Wein” beschrieben, der mit ca. 8 % Wermuttinktur, 2 % Tinktur von Bitterorangen und 20 % Zucker versetzt sei und zum Preis von 3 Mark pro 0,75 Liter gehandelt würde.
Der botanische Name von Wermut ist Artemisia absinthium. Eine daraus hergeleitete berauschende Berühmtheit ist der Absinth, der meist als hochprozentiger Schnaps destilliert wird, grün ist und gelegentlich halluzinogen wirkt. (Destilliertes) Wermutwasser ist bereits Hiernonymus Brunschwig, dem Autor eines des ersten frühneuzeitlichen Destillierbücher, bekannt; aber dass das "Wermutwasser" wirklich "wunderbarliche Eigenschaften" hat, wie manche dachten, glaubt er nicht. Wie der Likörspezialist Anton Fischer, kam im 19. Jahrhundert, der Hochzeit von Absinthschnaps als Rauschmittel der Bohème, die grüne Farbe nicht unbedingt aus der Pflanze, sondern wurde zugefügt. Hiervon soll ein andermal berichtet werden.
Bitterstoffdroge mit langer Tradition
Also gehen wir noch weiter der Herkunft von "Vermouth" nach. Das Wort leitet sich vom deutschen Pflanzennamen „Wermut” ab; der bittere Geschmack des Wermuts kennzeichnet auch den Wein und andere Zubereitungen aus ihm. Nach Dioskurides hat Wermut eine warme und trockene Qualität, hilft bei Verdauungsbeschwerden, treibt den Harn und verhindert sogar einen Rausch, wenn man ihn vorher einnimmt. Weitere Indikationen sind Appetitlosigkeit, Gelbsucht und Wurmerkrankungen. Äußerlich angewendet heilt er Wunden und Entzündungen und er wirkt als Repellent gegen Motten. Interessant ist, dass Dioskurides bereits von Gegenden berichtet, in denen ein Wermutwein hergestellt wird.
Auch Leonhart Fuchs, Autor eines der ersten deutschsprachigen Kräuterbücher (1543), erwähnt Wermutwein. Er stärke den Magen, fördere den Appetit und bringe Frauen ihre Menstruation.
Der niederländische Arzt Nicholaas Fonteyn (Mitte des 16. Jahrhunderts, auch genannt Fontanus) schreibt, dass täglich getrunkener Wermutwein dazu beitragen könne, die Bildung der gefürchteten Blasenmole bei Frauen zu verhindern. Er erwähnt Wermut bei vielen geburtshilflichen und gynäkologischen Indikationen in verschiedenen Zubereitungen, etwa als Wermut-Bier und Wermut-Wein.
Wermut wurde nicht ganz so häufig wie Wein aus der Hofapotheke in Wolfenbüttel angefordert, allerdings immerhin 63 Mal, davon dreimal im Zusammenhang mit Wermutwein. Oft orderte aber die fürstliche Familie nur die Kräuter und verarbeitete sie selbst weiter, beispielsweise zu Sirup oder Kräuterwein. Die 63 Erwähnungen sind also nur ein Anhaltspunkt. Weitere bestellte Zubereitungen des Wermuts waren Wermutsalz (wahrscheinlich ein getrockneter und eingedickter Extrakt oder ein auf Basis von veraschtem Wermut hergestelltes, an Salz erinnerndes Produkt), Wermutöl und Wermutextrakt. Auffällig ist, dass die Apotheke besonders im 16. Jahrhundert vor allem Frauen als Empfängerinnen registrierte, was zu den Angaben von Fuchs und Fontanus passt.
Kraut, Salz, Extrakt, Öl und Wein von Wermut werden in Arzneibüchern des 17. und 18. Jahrhunderts durchgehend beschrieben. Für die Herstellung des Salzes wurden Ende des 17. Jahrhunderts verschiedene Verfahren angegeben. Die abgebildete Vorschrift von Johann Schröder 1685 wurde beispielsweise in der einflussreichen Württembergischen Pharmakopöe übernommen. Neben der Indikation Frauenleiden dürften viele Wermutpräparate einem bis heute akzeptierten Zweck gedient haben: Bitterstoffe regen den Appetit an, indem der bittere Geschmack reflektorisch die Magensaftsekretion steigert: Sie wirken als "Aperitiv" oder allgemein, wie schon Leonhart Fuchs weiß, magenstärkend. Als "Tinctura Absinthii" wurde im 19. und 20. Jahrhundert der alkoholische Auszug aus dem Kraut tropfenweise eine halbe Stunde vor dem Essen verordnet.
"To weed this wormwood from your fruitful brain..."
Der englische Name für Wermut ist „wormwood” und verweist, wie erwähnt, auf seine Anwendung gegen Wurmerkrankungen. Aber auch wenn uns etwas „wurmt”, weil wir ein Ereignis im Leben besonders bitter finden, ist Wermut im Spiel – zumindest im Englischen. Der „Wurm” kann sich durch unsere Eingeweide und Seelen fressen. Mit dem sprichwörtlichen „Wermutstropfen” wird wieder auf die bittere Eigenschaft der Pflanze angespielt. Damit können wir umgehen, solange es beim "Tropfen" bleibt, aber es kommt eben auf die Dosierung an.
Bei Shakespeare kommt das Wort „Wormwood” in dieser Bedeutung mehrfach vor, beispielsweise in der Schlussszene der frühen Komödie „Love's Labour's Lost” (Verlorene Liebesmüh). Nach den üblichen Verwirrungen und Verwicklungen wird Lord Berowne von seiner Angebeteten das Versprechen abgenommen, „den Wermut aus seinem Gehirn zu jäten” ("to weed this wormwood from your fruitful brain"). Nur so wird er Rosalind gewinnen. Die Welt, so argumentiert sie, kenne ihn
„... als einen dreisten Spötter.
voller Vergleich und Hohn, der tief verwundet,
der seinen Spott auf all und jeden lenkt,
der eures Witzes Gnade anheimgefallen ist. [Er wird aufgefordert,]
den Wermut aus eurem Hirn zu reuten,
[…]“
Anstatt seine Macht auszunutzen und Unterlegene zu verachten, soll Berowne sich ab jetzt um Elende und Kranke kümmern und versuchen, deren Leid zu lindern. Er soll sie also nicht mit Spott zutexten, sondern ihnen zuhören und sie aufheitern. Der Lord wendet ein, dass Späße keine verzweifelte Seele erreichen könnten: „Mirth cannot save a soul in agony.“ Spielt er damit auf die duftende Myrte an, die symbolisch für die Liebe steht? Allerdings war diese gerade erst dabei, aus der Neuen Welt auf der nebligen Insel anzukommen. Der Gegensatz „Wormwood” vs. „Mirth” im Sinne von aufheiterndem Scherz ist in der Literatur des 16. Jahrhunderts dagegen geläufig. Abgesehen von der Frage nach den Nebenbedeutungen von Pflanzennamen sollte Rosalinds Auftrag unbedingt auch heute Gehör finden: dem Wermut einen Platz im Garten lassen und uns die weit verbreiteten menschenverachtenden Parolen und Memes "aus dem Hirn reuten". Was für eine kluge Hortikultur der Menschlichkeit wäre das doch.
Bettina Wahrig