Confectio Cinae (Juli)

Confectio Cinae (Wurmsamenkonfekt) Foto: Anette Marquardt

Liebesperlen oder Wurmmittel? - Die vielen Gesichter der Artemisia

Haben Apotheker früher neben Importwaren wie Kaffee und Zucker, neben Mineralwasser und Fruchtsäften auch Süßigkeiten für Kinder verkauft? Die 13 cm hohe Weithalsflasche aus dem 20. Jahrhundert (Sammlung Schneider, genaue Herkunft des Objekts noch unbekannt) lässt das fast vermuten. Von weißem oder rotem Zucker überzogene, etwa 1 cm große Kügelchen befinden sich im Gefäß, ähnlich wie die in unserer Kindheit beliebten bunten Zuckerkügelchen, genannt "Liebesperlen".

Aber hinter dem appetitlichen Aussehen verbirgt sich eine bittere Medizin für eine auch im 20. Jahrhundert noch bedeutsame Indikation. Es handelt sich um die unreifen Blütenköpfchen von Artemisia cina, einer der vielen auf der Welt verkommenden Artemisia-Arten, und sie wurden verzuckert und dragiert, um den bitteren Geschmack zu verbergen. Sie wurden fälschlicherweise "Wurmsamen" genannt. Hauptsächliche wirksame Inhaltsstoff ist das Naphthalinderivat Santonin,. Das größte Vorkommen von Artemisia cina findet sich in Usbekistan, Turkestan, Iran und auch in der chinesischen Provinz Xinjiang.

Zu den in unserem Kulturkreis bekannteren Artemisia-Arten gehört neben dem Beifuß (Artemisia vulgaris – Kenner:innen möchten ihn für die Zubereitung eines Gänsebratens nicht missen) – auch der Wermut (Artemisia absinthium). Und dieser Name verrät mehrere Anwendungen. Das englische Wort für Wermut ist nämlich "wormwood", also wörtlich "Wurm-Holz", was darauf verweist, dass auch diese Artemisia-Art gegen Eingeweidewürmer eingesetzt wurde. Der sprichwörtliche "Wermutstropfen" verrät, dass wir es mit sehr bitteren Drogen zu tun haben. Darüber, was "Magenbitter" oder "Vermouth" in der Apotheke zu suchen hatten, müssen wir an dieser Stelle noch gesondert berichten. Der Name "Artemisia" verweist nicht auf die Göttin Artemis, sondern auf die Königin Artemisia II, nach der der Naturhistoriker Plinius die Pflanze genannt haben soll.

Artemisia cina bei Berg/Schmidt 1863

Pflanzen und Drogen hinter den "Liebesperlen"

Neben dem gemeinen Beifuß (Artemisis vulgaris) und dem Wermut (Artemisia absinthium) sind Strand-Beifuß (Artemisia maritima), pontischer Beifuß (Artemisia pontica), Eberraute und Estragon einige wichtige in Europa arzneilich verwendete Artemisia-Arten. Weltweit bekannt sind heute ungefähr 40 arzneilich verwendete Arten. Über die Artemisia annua und das aus ihr ab 1972 gewonnene Malariamittel Artemisinin werden wir noch gesondert berichten. 

Der "Wurmsamen" oder auch "Zittwersamen" wurde vor allem in der europäischen, aber auch in der arabischen und osmanischen Medizin als Wurmmittel eingesetzt. Trotz des Namens sind nicht die Samen, sondern die noch nicht ganz geöffneten Blütenköpfchen der Pflanze gemeint. Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass über die gesamte Zeit ihrer Verwendung immer dieselbe Pflanzenart verwendet wurde. "Semen cinae" wurde durchgängig von Apotheken vorrätig gehalten und war in vielen Rezepten vorhanden. 1666 verzeichnete das Inventar der Braunschweiger Apotheke immerhin 17 Pfund der "Samen" und 8 Pfund der "Confectio" (ein Apothekerpfund entsprach etwa 360 g). Die Droge wurde zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich über den Levante gehandelt. Die Differenzierung innerhalb der verschiedenen Artemisia-Arten anhand ihrer genauen Gestalt und ihres Ausbreitungsgebiets ist aktuell Gegenstand von Debatten.

Strukturformel von Santonin

Von der Wirkung zum Wirkstoff

Obwohl also Namen wie "Wurmsamen", "Semen cinae" oder auch "Semen lumbricorum" – weitere Bezeichnungen sind "semenzina" oder "semen contra" – in vielen Pharmakopoen und Arzneibüchern erwähnt wurden, war bis ins späte 19. Jahrhundert die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Artemisia-Arten unklar. Unter den vielen arzneilich verwendeten Arten hatte etwa die Hälfe eine traditionelle Verwendung als "Vermifugum" (also Wurmmittel). Unter dem Eintrag "Semen cinae s. Santonici. Zittwersaamen" werden etwa in Hamburg 1845 zwei Arten genannt, aber offen gelassen, ob noch weitere Pflanzen hinter den Blütenköpfchen steckte. Artemisia maritima, die in Meeresnähe wächst, könnte hier gemeint sein, aber auch eine andere der zahlreichen Arten, die als wurmvertreibend bekannt waren. Dies zeigt, wie unklar die Zuordnung war. Den Artnamen Artemisia cina schlugen 1863 Otto Karl Berg und Carl Friedrich Schmidt zusammen mit einer genauen botanischen Beschreibung vor.

Santonin: Probenglas und Weithalsglas. Foto: Anette Marquardt

Bereits 1830 hatten unabhängig voneinander der Apotheker Kahler und der Kandidat der Pharmazie Joachim August Alms den Wirkstoff Santonin aus der Pflanze isoliert; der Name für den Stoff wird von Artemisia santonica abgeleitet, einem weiteren Synonym für Artemisia cina. Mit der Isolierung des Santonins wurde deren Ausbreitungsgebiet im südlichen Kaukasus für den Handel dominant; die meisten Importe kamen aus Russland, das seit den 1860er Jahren diese Gebiete beherrschte und ab 1883 ein Monopol über eine Santonin-Fabrik in Schymkent besaß. Diese "Cina" hieß häufig "levantica", was auf ursprünglichen Handel über die Seidenstraße hinweist. Allerdings enthält ein knappes Dutzend anderer Artemisia-Arten auch Santonin. Artemisia maritima und deren Hybride wurden in Thüringen etabliert und konnten dort als Quelle der Santonin-Herstellung verwendet werden.

Dissertation von R. J. Mayer über das Santonin

Wie wurde also die wurmvertreibende Wirkung von Artemisia cina erkannt? Warenname, Aussehen und Handelswege waren ausreichend stabil, bevor eine spezifische Droge für die Wirkung verantwortlich gemacht wurde, und das wurde relevant, als der Wirkstoff möglichst in Reinform und in großer Menge hergestellt werden sollte und begann, die Droge zu ersetzen.

1833 begann Merck mit der Produktion von Santonin, und die Kristalle aus der noch nicht komplett identifizierten Pflanze spielten schnell die Rolle einer vielversprechenden Neuerung. In seiner medizinischen Dissertation von 1838 zeigte sich Robert Julius Mayer, der heute nur noch für seine späteren Beiträge zum Satz der Erhaltung der Energie bekannt ist, überzeugt, dass sich Santonin gegenüber der pflanzlichen Droge als überlegen zeigen würde. Er stellte 24 Fälle vor, in denen Kinder mit der Substanz behandelt wurden. Die meisten schieden daraufhin Eingeweidewürmer aus, manche in großer Zahl. Die Fallberichte sind für heutige Lesende trotzdem erschreckend, denn sie schildern häufig schwer leidende Kinder, deren Zustand Mayer auf die schwierigen materiellen Umstände der Familien zurückführt. Jedoch habe das Ausscheiden der Würmer meist eine sofortige Besserung des Gesamtzustandes bewirkt. Mayer beobachtete: "Auch fängt das Mittel hier bereits an, bei dem Publicum beliebt zu werden, das in demselben einen wesentlichen und palpabeln Fortschritt der Arzneiwissenschaft zu sehen wähnt."

Die lange Geschichte der Wurmkonfekte

Doch zurück zu den "Liebesperlen": Nicht nur die relativ große Menge der in Apotheken vorrätig gehaltenen Wurmsamen, auch die Menge der überlieferten Rezepte gegen Wurmbefall zeigt, wie wichtig diese Erkrankung war. Bereits das Arzneibuch des Valerius Cordus (1596) gibt ein Rezept für eine "Confectio contra vermes" wieder. Bei der Arzneiform "Confectio" handelt es sich um ein zuckerhaltiges Medikament. Es sind mehrere wurmtreibende Bestandteile enthalten und - was auch ganz typisch ist - Abführdrogen (hier Medizinalrhabarber und Weinstein).

Ein arabisches Rezept aus dem 15. Jahrhundert zeigt, dass zwischen dem Osmanischen Reich und dem lateinischsprachigen Mittelalter eine gemeinsame Wissensbasis bestand. Zwei der hier erwähnten Aremisia-Arten sind Quellen von Santonin. Der Name der einen, "Semen contra aus Khorasan" verweist auf den südlichen Teil des Ausbreitungsgebiets, in dem später Santonin produziert wurde. Auch der erwähnte  "falsche schwarze Pfeffer" war als Wurmmittel bekannt. Außerdem sind Abführdrogen enthalten.

Rezept von al-Shirwānī (15. Jh-) mit Artemisia-Arten und Abführ-Drogen.
Wurmkonfekt bei Valerius Cordus 16. Jh.
Im Konfekt werden wurmtreibende und abführende Mittel mit Zucker kombiniert.
Rezept von 1722 mit Wurmsamen, Corallina (einer wurmtreibenden Alge) sowie pflanzlichem und mineralischem (Quecksilber) Abführmittel.
Pastilli Santonini aus der Rats-Apotheke Lehrte, 20. Jahrhundert

Die Kombination von wurmtreibenden und abführenden Mitteln haben die vorgestellten Rezepte gemeinsam. Wurmmittel töteten die Parasiten meist nicht, sondern machen sie unbeweglich, worauf sie vom Dünndarm in den Dickdarm gelangten, von wo sie dann durch das Laxativ ausgetrieben wurden. Valentin Kräutermann (alias Christoph von Hellwig), Autor eines der ersten speziellen Bücher zur Kinderheilkunde, erklärt dazu noch Folgendes: Die Würmer würden von Süßem angezogen, und so könnte man sie vielleicht täuschen und zur Aufnahme der bitteren Stoffe verleiten. Die Kombination von Bitterem, Süßem und Abführendem blieb konstant, auch in den Fallberichten Mayers von 1838 wurde das Santonin mit süßen Zutaten und einem Abführmittel kombiniert. Ähnliches zeigen die Santonin-Pastillen im dunklen Weithalsglas aus unserer Sammlung aus dem 20. Jahrhundert.

In China verbanden europäische Missionare ihr Ziel, die Bewohner:innen vom Christentum zu überzeugen, mit dem großzügigen Verteilen von Santonin-Tabletten - nicht nur die Bewohner, sondern auch die Missionare selbst waren überrascht von deren prompter Wirkung, wie Dominique Merdes gezeigt hat. Ein ziemlich großer Teil der Bevölkerung muss mit Würmern infiziert gewesen sein, was jedoch Ostasien in keiner Weise von anderen Teilen der Welt unterschied.

Pastilli Santonini bei Starkenstein 1938

Eingeweidewürmer als konstante Begleiter der Menschheit

So sieht das etwa James Webb in seiner Globalgeschichte der Fäkalien. Eine paläonotologische Studie zeigte, dass Bergarbeiter in Hall in der Eisenzeit häufig mit Eingeweidewürmern befallen waren. Allerdings fehlten die später für den Berg- und Tunnelbau so typischen Hakenwürmer.

Neben dem Bergbau war die Landwirtschaft eine Quelle für Infektionen. Noch 1960 fand der Pharmakologie-Professor Fritz Hauschild aufgrund von Stuhlproben, dass 63% seiner Proband:innen mit Würmern infiziert waren. Er zeigte auch einen Infektionsweg auf. Bei einem Selbstversuch wurden Askariden-Eier in einem Schrebergarten ausgebracht, in dem später Erdbeeren gezogen wurden. Der Befall der Erdbeer-Konsument:innen ließ nicht lange auf sich warten. Landwirtschaft, Bergbau und der Umgang mit Fäkalien waren die wichtigsten Gebiete, auf denen Vorbeugemaßahmen getroffen wurden.

1954 erwähnt die Hilfstaxe für Apotheken Santonin-Zubereitungen "in Zeltchen, Pastillen, Tabletten und anderen gebrauchsfertigen dosierten Arzneimformen zum Einnehmen (Hilfstaxe, S. 268). In den 1960er Jahren wurde die Toxizität der etablierten Wurmmittel stärker problematisiert, zumal sich langsam Alternativen ergaben. Santonin und das ebenfalls wichtige Thymol verschwanden nach und nach aus den Lehrbüchern der Pharmakologie. Santoninhaltige Medikamente hielten sich bis 1975 vereinzelt noch in der Roten Liste. Bereits 1978 sah es Auterhoff aber als obsolet an und die Rote Liste enthielt seit 1980 kein Santonin- oder A. Cina-Präparat mehr. Das Problem einer hohen Infektionsrate der Bevölkerung mit den verschiedenen Arten von Darmparasiten besteht allerdings weltweit noch heute.

Bettina Wahrig