Hirsch trifft Geschichte trifft Krimi

Fred Vargas: Die ewigen Wälder, drei Hirsche und ein Geheimrezept

 

Der Pariser Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg ist in einer privaten Angelegenheit unterwegs und betritt eine Kneipe in der Normandie, wo sich gerade die Stammgäste über eine blutige Tat in der Nähe ihres Ortes aufregen.
"Wer das getan hat, sagte ein großer Krummer am Ende des Tisches", ist kein Mensch. - "Der ist ein Tier." - "Schlimmer noch als ein Tier." - "Genau."
Das alles macht die Männer durstig. Nachdem die Getränke am Tisch angelangt sind, wird die Konversation wieder aufgenommen. Weitere Attribute werden diskutiert. Ist der Täter ein Besessener, ein Barbar? Egal was, das Urteil aller Anwesenden lautet: "Genau!"
"Wer das getan hat, wollte töten und sonst nichts. Zwei Schüsse in die Flanke und das war's. Er hat sich nicht mal am Körper bedient." Das brutale Vorgehen überzeugt die Stammtischrunde davon, dass hier ein Serienmörder agiere, weitere Meucheleien seien zu erwarten.

Der Kommissar wird ins Gespräch hineingezogen und bekommt auf Nachfrage die Schlagzeile: "Abscheuliches Blutbad in Brétilly" zu sehen. Diese befindet sich nebst Foto in der Zeitung "Der Oberjägermeister des Westens." Das Opfer dieses Meuchelmordes ist also ein Tier, genauer, ein Hirsch. Auf dem Zeitungsbild ist zu sehen, dass diesem tatsächlich weder das Geweih, noch der Vorderhuf - die üblichen Trophäen, noch - bis auf das Herz - etwas von seinem wertvollen Fleisch entnommen wurde.

Adamsberg beginnt sich für den Fall zu interessieren, weil zwei anscheinend ohne Motiv begangene Morde in Paris mit ihm zusammenzuhängen scheinen: Gräber von Frauen aus der Normandie waren aufgebrochen worden ohne augenscheinlichen Diebstahl, aber die Ausführenden mussten sterben. Warum? In den Fokus der Recherche rücken verschwundene Reliquien und weitere gemeuchelte Tiere.

Ein Buch aus dem 17. Jahrhundert, betitelt "Von den heiligen Reliquien und ihrem Gebrauch", das der Vatikan auf den Index gesetzt hatte, finden die Ermittler ein "unfehlbares Mittel, das menschliche Leben zu verlängern", in dem unter anderem Hirschherzknochen eine Rolle spielen. Diese kleinen, kreuzförmigen Verknöcherungen aus der Herzscheidewand des Hirsches (Ossa de corde cervi) waren seit der Antike ein geschätztes Heilmittel in verschiedenen schweren oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Dazu ist im "Objekt des Monats" für September 2025 mehr zu lesen. Wie in den Krimis von Fred Vargas üblich, verbindet Adamsberg mit der Hilfe seiner Crew - die Hilfe des gelehrten Danglard ist z.B. für die Deutung des rätselhaften Rezeptes essentiell - eine von Legenden und Mythen durchzogene Vergangenheit mit einem aktuellen Fall. Gelehrsamkeit, Mythologie, Geschichte und Komik werden dabei virtuos gemischt.

Fred Vargas ist der Künsterinnenname von Frédérique Audoin-Rouzeau. Sie ist studierte Historikerin und Archäologin und arbeitet am Pariser CNRS (Schwerpunkt Paläozoologie); dieses Wissen spielt sie virtuell aus, in einem Plot, über den hier nicht mehr verraten werden soll - nur soviel noch: Die Taten wurden, wie im klassischen "Whodoneit" üblich, von der am wenigsten wahrscheinlichen Person begangen.

 

Bettina Wahrig

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