Es ist immer noch Orange Day
Als Ergänzung zum "Objekt des Monats" vom November - Stechapfel - soll hier, passend zum jüngst begangenen Orange Day, dem internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen, eine neue Kurznachricht aus der Bibliothek erscheinen. Die Verbindung zwischen dem Stechapfel und dem Thema "Femizid" liegt darin, dass ein giftiger Inhaltsstoff des Stechapfels, Hyoscin, verwendet wurde, von einem Ehemann, der diese Substanz zu Mordzwecken einsetzte.
Da auch in Deutschland nach wie vor jeden Tag ein Femizid versucht wird und jeden zweiten einer "Erfolg" hat, ist eigentlich das ganze Jahr Anlass, ewas zum "Orange Day" zu sagen. Anlässlich einer Neuerscheinung möchte ich an einen der wohl spektakulärsten Frauenmorde der Geschichte erinnern. Dieser wurde schon oft dokumentarisiert, fiktionalisiert und verfilmt: 1910 vergiftete HawleyHarve Crippen seine zweite Frau Cora, eine unter dem Künstlerinnennamen Belle Elmore auftretende Music-Hall-Sängerin, in deren gemeinsamem Haus in London. Crippen war ein in den USA zum homöopathischen Arzt ausgebildeter Arzneimittelhändler und alternativmedizinischer Praktiker, oder eigentlich besser: Schwindler. Ob Belle Elmore durch das Gift zu Tode kam oder ob Crippen sie noch mit anderen Mitteln umbrachte, ist unklar. Jedenfalls zerlegte er ihren Körper und vergrub Teile davon im Keller des Hauses, das er anschließend zusammen mit seiner Geliebten, Ethel le Neve, bewohnte.Dem Verschwinden von Belle Elmore ging die Polizei erst ein halbes Jahr später nach, weil Crippen die Nachricht verbreitet hatte, seine Frau sei in die USA abgereist. Dass der Fall so berühmt wurde, lag vor allem daran, dass Crippen und die als junger Mann verkleidete le Neve versuchten, sich über den Atlantik nach Kanada abzusetzen, als polizeiliche Untersuchungen einsetzten. Die Flucht und deren Verfolgung durch den ermittelnden Inspektor Dew von Scottland Yard machten die Geschichte zu einer sich aufgrund des Einsatzes der auf Schiffen neu etablieren Telegraphie in Echtzeit abspielenden Real-Crime-Story. Das Paar wurde noch vor der Landung des Schiffs in Kanada verhaftet und nach England zurückgebracht. In dem nachfolgenden Prozess wurde Crippen zum Tode verurteilt, Le Neve jedoch freigesprochen.
Gerichtlich belegt wurde die Anwesenheit einer hohen Dosis von Hyoscin, mit der Belle wahrscheinlich betäubt wurde, bevor sie auf andere Weise zu Tode kam. Da Crippen schwieg und nur Teile der Leiche geborgen werden konnten, ließ sich der Hergang nicht vollständig rekonstruieren.
Anlass für mich, mich erneut mit diesem Fall aus der Geschichte der Giftmorde zu beschäftigen, war das Erscheinen von Hallie Rubenholds Buch "Story of a Murder. The Wives, the Mistress and Doctor Crippen". Obwohl als Sachbuch beworben, liest sich das dicke Buch wie ein Roman. Aber im Gegensatz zu den bisherigen literarischen Aufarbeitungen verschiebt es den Fokus erheblich. In den meisten anderen Erzählungen ist Crippen entweder das gefühllose, skrupellose, meist auch psychopathologisch analysierte Monster oder - sehr viel öfter - der vielleicht etwas willensschwache, aber doch von seiner Frau zu dieser Tat Getriebene, die dies im Grunde verdient hat.
Der misogyne Nachhall
Eine Music-Hall-Sängerin, noch dazu eine kinderlose, eine, der Crippen zeitweise auf den Reisen zu ihren Engagements gefolgt ist - das muss schon eine schlimme Belastung für einen Mann Anfang des 20. Jahrhunderts gewesen sein, oder? Berichte aus dem Gerichtsprozess, besonders aber auch aus den Autobiographien von Ethel Le Neve, Crippens dritter Frau, wurden in der Presse und durch die schreibende Nachwelt hinzugezogen, um zu schildern, wie unerträglich das Leben für diesen ruhigen, im Grund anspruchslosen Arzneimittelhändler gewesen sei. So etwa Horace Thoroughgood in "East of Aldgate"
"The home life of this quiet, likeable man was mades wretched by an uncongenial wife who treated him with contempt. She was a worthless creature. She filled his house with people whom he despised and who despised him. Here, if ever was an excusable crime. The woman had no known relatives and no children. There was no one to mourn for her loss."
Ausgeblendet wird dabei z.B., dass Crippen sowohl im medizinischen Bereich als auch in weiteren Geschäftssektoren, für krumme Geschäfte und Betrügereien mehrfach gerichtlich verfolgt worden war. Seine berufliche Karriere entwickelte sich vom alternativmedizinischen Journalismus zum Agenten eines Arzneimittelversands und fragwürdigen Heiler.
Hallie Rubenhold dreht aber die Perspektive nicht einfach um. Sie schreibt eine multiperspektivische Geschichte, sie fokussiert nacheinander die involvierten Frauen, Crippen selbst und Belle Elmores engste Freundinnen in London. So nennt sie das Opfer auch nicht mit ihrem Ehenamen "Cora Crippen", sondern mit ihrem Künstlerinnen-Namen, "Belle Elmore". Sie nimmt die Versuche dieser Frau Ernst, sich eine eigene Lebensperspektive zu schaffen und dies neben dem Mann, der - so rekonstruiert Rubenhold anhand von Quellen - von einem Betrug in den anderen, von einem Fast-Bankrott in die nächste Scheinfirma flüchtet und dabei auch immer wieder das Leben seiner Patient:innen gefährdet. Das gilt nicht zuletzt für seine Partnerinnen. Die Kinderlosigkeit Belle Elmores ist einer Ovarektomie geschuldet, die Crippen vielleicht sogar selbst durchgeführt, die er jedenfalls mit fadenscheinigen Begründungen selbst veranlasst hat. Seine dritte Frau, mit der er dann nach dem Mord an Belle übers Meer flüchtete, hatte er zu künstlichen Zähnen überredet; diese hatte sich zu diesem Zweck in einer Sitzung 20 Zähne ziehen lassen.
Warum wurde Belle nicht nur grausam ermordet und würdelos vergraben, warum wurde sie nicht nur von ihrem Mörder, sondern auch von einem Teil der Öffentlichkeit und der Nachwelt immer wieder zum Gegenstand von "Victim Blaming"? Warum konnte in diesem Fall immer wieder neu darüber gerätselt werden, was Crippen zu seiner Tat trieb und welchen Anteil sein Opfer dabei hatte?
Bei der Erinnerung an die wiederkehrenden Femizide seit 1910 können wir vielleicht darüber nachdenken, welche Frauen in der Öffentlichkeit betrauert werden und welche nicht. Eine Figur wie Belle Elmore, die in den meisten Berichten mit dem Nachnamen ihres Mörders (Crippen) weiterlebt, taugt nicht als Opfer, weil sie Geschlechtergrenzen mehrfach überschritten hat – auf eine Weise, die rund 100 Jahre später für mich, als Bewohner:in eines irgendwie weiblich konnotierten Spektrums, auf Anhieb kaum lesbar ist. Als junges Mädchen suchte sie Bildung und Arbeit, als Ehefrau ohne Aussicht auf Kinder machte sie eine Ausbildung zur Opernsängerin. Als neu in England angekommene Migrantin baute sie sich ein Netzwerk in der Music-Hall-Szene auf. Hallie Rubenhold macht diese Spuren lesbar, indem sie ihr Leben und das Leben der Menschen um sie herum detailliert historisch aufarbeitet. War sie ein typisches oder ein untypisches Opfer? Musste sie sterben, weil sie sich nicht an die um 1900 für Frauen definierten Grenzen ihres Geschlechts hielt? Wurde so nachhaltig über die Motive Crippens gerätselt, weil er kein offensichtlicher "Macho" war, weil er ruhig und fast sanftmütig wirkte?
Besser passt es, den Mord an Belle Elmore als einen von vielen Fällen zu sehen, die auf je unterschiedliche Weise in die Geschichte des Patriarchats verstrickt sind. Das bedeutet, dass wir noch viele Orange Days benötigen werden.
Von Bettina Wahrig