Geschlecht trifft Geschichte trifft Mehrdeutigkeit

Buchtitel U.Klöppel 2010

XXOXY - immer noch ungelöst

Vor 15 Jahren erschien die überarbeitete Fassung der Dissertation von Ulrike Klöppel "XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin ; eine historische Studie zur Intersexualität. Ich hatte die Freude, die historische Arbeit zu einem Thema zwischen Medizin und Gender Studies neben Irene Dölling mitbetreuen zu dürfen. Die Autorin ist in diesem gründlich recherchierten Werk der Frage nachgegangen, wie Medizin und Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert die Existenz von Geschlechtern zwischen den Kategorien "Mann" und "Frau" erklärt haben und wie die Gesellschaft mit ihnen umgegangen ist. In Kunst und Literatur finden sich seit der Zeit der Antike Figuren, die das "Dazwischen", das "Sowohl-als-auch" oder das "Weder-noch" der Geschlechter darstellen. Eine bekannte Figur der griechischen Antike ist der sogenannte "Hermaphrodit", der äußerliche Merkmale beider Geschlechter aufweist. Er wurde selten als Bedrohung wahrgenommen, sondern eher bewundert, im 19. Jahrhundert in der Dichtung vielfach besungen.

Hermaphrodite endormi
Schlafender Hermaphrodit Musée du Louvre

Erklärungen für die Existenz von intersexuellen Menschen knüpften in der Frühen Neuzeit an Denkfiguren des Wunders an, die negativ oder positiv besetzt sein konnten. In der antiken und frühneuzeitlichen Medizin gab es Erklärungen, warum "männlich" und "weiblich" im menschlichen Körper kein absoluter Gegensatz sein mussten, warum es Übergänge zwischen beiden in Physiologie und Anatomie gab. Auch dichotome Sichtweisen des "Entweder-Oder" existierten. In jedem Fall wurden die körperlichen Unterschiede im Sinne einer Hierarchie zugunsten des männlichen Körpers ausgelegt.

Aber erst mit der Überbetonung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand das Verlangen, die geschlechtlichen "Zwischenstufen" sozusagen "wegzuerklären". War es nicht doch möglich, wissenschafltiche Kriterien festzulegen, nach denen auch die Übergangsformen je einem Geschlecht zugeordnet werden konnten? Die Bedeutung der sogenannten "sekundären Geschlechtsmerkmale" und die Unterschiede im Körperbau wurden oft übertrieben dargestellt. Allerdings gab es in den Gesetzen jener Zeit doch einen kleinen sozialen Spielraum für Menschen, die von den medizinischen Normen abwichen. Im sog. Zwitterparagraphen legte das Preußische Landrecht fest, dass ein Mensch, dessen Geschlechtsidentität bei der Geburt uneindeutig war, im Erwachsenenalter den Geschlechtseintrag unter bestimmten Bedingungen ändern lassen konnte.

Als im 19. Jahrhundert die Funktion von Ovarien und Hoden deutlicher wurde - ab etwa 1900 konzentrierte man sich auf die von ihnen produzierten Hormone - kam die Überzeugung auf, dass hier der entscheidende Unterschied liege, aber bald wurde klar, dass Männer auch weibliche und Frauen auch männliche Sexualhormone haben. So ist es kein Zufall, dass um 1900 eine Gruppe von Wissenschaftler:innen zu der Überzeugung kam, es wäre besser, die Kategorie "Geschlecht" auf einem Spektrum zu verorten. Der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld setzte sich besonders gegen die Kriminalisierung von Norm-Abweichungen ein und gründete das "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen". Aber zu diesem Abschnitt der Geschichte kommen wir noch.

Auch mit der Erstbeschreibung der Geschlechtschromosomen konnte keine endgültige Vereinheitlichung des Geschlechterwissens erzielt werden. Zunächst wurden auch andere als die beiden häufigsten Konstellationen (XX und XY) bekannt. Aber dann deckte die Forschung auf, dass "Geschlecht" eine extrem komplizierte Angelegenheit ist; ungefähr 300 Gene (längst nicht alle auf den Geschlechtschromosomen) sind an der Ausprägung von "Geschlecht" beteiligt - "Geschlecht" ist ein Netzwerk aus vielen Faktoren auf den unterschiedlichsten Ebenen: Anatomie, Physiologie, Körperbau, Verhalten, Gefühlslage.

Eugenides: Middlesex 2002
Buchtitel Middlesex

Die Zuordnung von biologischen Merkmalen zu sozialen Rollen wurde vom 18. bis zum 20. Jahrhundert überwiegend von männlichen Wissenschaftlern vorgenommen, die selbstverständlich von der biologischen und sozialen Unterlegenheit von Frauen ausgingen. Kulturalistische Theorien und die Stimmen von Frauen erhoben sich dagegen. Erinnert sei nur an das Motto von Simone de Beauvoirs Buch "Das andere Geschlecht": "Man wird nicht als Frau geboren, man wird es". Auch in der biologisch orientierten Sexualmedizin wurde dieses Argument aufgegriffen. Da Intersex grundsätzlich als Störung gedacht wurde, sollte diese korrigiert werden. Mediziner wie John Money in Baltimore dachten, Kinder, die mit uneindeutigen Geniatlien geboren wurden oder einen uneindeutigen Hormonstatus hatten, müssten mit medizinischen Mitteln an eines der beiden Geschlechter angeglichen werden, sonst könnten sie sich nicht sozial in die existierende Zwei-Geschlechter-Ordnung integrieren. Aus der Normabweichung "Intersex" wurde ein Grund, tief in die Anatomie und Physiologie der betroffenen Kinder einzugreifen, bevor diese in der Lage waren, selbst eine Entscheidung zu treffen, ob sie diese geschlechts"korrigierenden" Maßnahmen überhaupt wollten. Es wird heute häufig vergessen, dass die kategoriale Trennung "sex" ("biologisches Geschlecht") vs. "gender" ("soziales Geschlecht") zwar in den Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts angedacht wurde, ihre größte Wirkmacht aber in der Biomedizin der 1950er Jahre hatte. Eine literarische Verarbeitung dieser Problematik bietet der spannende Roman "Middlesex" von Jefrrey Eugenides. Die Tabus, die in einer traditionell eingestellten Familie im Mittleren Westen herrschen, verhindern, dass die körperlichen Abweichungen des als Mädchen aufgezogenen Protagonisten überhaupt zur Sprache kommen, bevor sie in der Pubertät nicht mehr zu leugnen sind. Hier wird die Diagnose "Intersex" erst im Jugendlichen-Alter gestellt. Gegen die Normsetzungen von Elternhaus und Medizinern kann sich der Protagonist des Romans durchsetzen und fortan ohne angleichende Operation als junger Mann leben.

Wer die über 600 Seiten von Ulrike Klöppels historischer Untersuchung zu den medizinisch-fachlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Aspekten des Umgangs mit Intersex liest, lernt eine Autorin kennen, die viele "Aufreger" der letzten Jahrzehnte zu den Theman "Gender", "Sex", "Intersex", "Medikalisierung" und "Selbstbestimmung" differenziert darstellt. Ulrike Klöppel kritisiert die gesellschaftlichen Tendenzen zur Geschlechternormierung und rückt die Versuche der Mediziner:innen, auf vorhandene gesellschaftliche Probleme zu antworten in einen Zusammenhang, ohne sie zu dämonisieren. Wohl aber rückt sie die Perspektive der Betroffenen immer wieder in der Blick. Angesichts der 2010 aktuellen Debatten um medizinische und - nach wie vor - psychosoziale Interventionen urteilt sie z.B.: "Dergestalt werden die Behandlungsevaluation und die Sorge um die psychosexuelle Entwicklung miteinander verbunden, ohne einmal grundsätzlich zu prüfen, ob die sogenannte normale, eindeutige Geschlechtsidentität tatsächlich eine angemessene Kategroie darstellt, um die Erfahrungen und ggf. Probleme intergeschlechtlicher Menschen zu erfassen." (S. 601) Intersexuelle Menschen gerieten immer wieder in den Status von Forschungsobjekten, statt dass ihre eigenen Perspektiven handlungsleitend würden.

Was hat sich seitdem geändert? Nach einer Erleichterung für intersexuelle Personen durch Änderung des Personenstandsgesetzes, was den Eintrag als "divers" ermöglichte, trägt seit 2024 das deutsche Gesetz zur sexuellen Selbstbestimmung den wissenschaftlichen Erkenntnissen und der rechtlichen Situation Rechnung und ermöglicht nun den personenstandlichen Eintrag als "weiblich", "männlich", "divers" oder eine Registrierung ohne Kategorie. In der wissenschaftlichen Forschung überwiegt mittlerweile die Überzeugung, dass es nicht nur zwei, sondern viele Geschlechter gibt, oder zumindest, dass die körperlichen Faktoren, die an der Darstellung von Geschlecht beim Menschen mitwirken, zahlreich und kompliziert vernetzt sind. Das neue Gesetz entspricht menschenrechtlichen Normen und diesen wissenschaftlichen Befunden. Gutes wissenschaftliche Wissen ist unabgeschlossen, lässt mehrere Denkmöglichkeiten zu und wird die menschliche Gesellschaft nie auf nur eine einzige Möglichkeit festlegen. Vor entsprechenden obrigkeitlichen Dekreten möge uns das Schicksal - oder besser: müssen wir uns selbst - bewahren. Über eine derartige Auffassung von Wissenschaft hat schon Goethe gespottet: "... und wer nicht denkt, dem wird sie geschenkt, er hat sie ohne Sorgen."