Die Weiterentwicklung konstruktiver Möglichkeiten erfordert mutige Experimente in der Baupraxis. Das Symposium #ConstructiveDisobedience lädt Architekt*innen, Ingenieur*innen, Hersteller- und Handwerker*innen ein, einen spezifischen Einblick in ihre konstruktiven Experimente zu präsentieren und in den Austausch zu bringen. Welche Kultur des Risikos kann und muss im Dienste einer verantwortlichen Architekturproduktion etabliert werden? Diese und weitere Fragen zur Zukunft der Baukonstruktion sollen auf dem Symposium im September 2022 im Mittelpunkt stehen. Professorin Helga Blocksdorf, Leiterin des Instituts für Baukonstruktion, organisiert zusammen mit Katharina Benjamin und Professor Dr. Matthias Graf von Ballestrem die Veranstaltung. Bianca Loschinsky hat sie gefragt, was es mit dem „konstruktiven Ungehorsam“ auf sich hat.
Für 2022 haben Sie das Symposium „Constructive Disobedience“ geplant. Um was geht es?
Auf der internationalen Konferenz sollen sich Architekt*innen, Ingenieur*innen, Hersteller- und Handwerker*innen über konstruktive Experimente austauschen. Die Birkenrinde ist ein solches Experiment, das auf der Baustelle zusammen mit der Klassik Stiftung Weimar ermöglicht wurde. Es gibt äußerst selten den Fall, dass sich Bauherren ein innovatives Bauwerk so sehr wünschen, dass sie das Experiment im Vorfeld bis hin zur Baustelle zulassen und mittragen.
Für die Konferenz „Constructive Disobedience“, also konstruktiver Ungehorsam, suchen wir Architekt*innen, die in ähnliche Richtungen arbeiten, bei denen das Forschen und Entwerfen in der Konstruktion und auf der Baustelle stattfindet. Wir möchten uns über Erfahrungswerte, Wege und Methoden austauschen. Wenn wir das forschende Entwerfen mit der Konstruktion verknüpfen, sehe ich viele Möglichkeiten für die Zukunft. Das internationale Symposium ist eine Kooperation der TU Braunschweig mit der Plattform Kontextur von Katharina Benjamin und Matthias Ballestrem, der an der HafenCity Universität (HCU) in Hamburg experimentellen Entwurf unterrichtet. Matthias Ballestrem ist nicht nur mein Doktorvater, sondern auch der Methodenspezialist, was das forschende Entwerfen auf der universitären Ebene angeht. Katharina Benjamin steht für eine sehr junge und international multiple vernetzte Generation, welche die Ressourcenfrage entsprechend dringlich vertritt.
Sie arbeiten viel an Bauten im Bestand. Was ist für Sie das Besondere bei der Bearbeitung solcher Projekte? Wo liegt der Unterschied zu den Neubauten?
Für mich ist der Unterschied – und das ist eine stark entwerfende Sicht, dass wir im Bestand meistens nur eine räumliche Stelle herausarbeiten können, die extrem präzise wird. Während man im Neubau den Anspruch haben sollte, das ganze Haus präzise und „übergenau“ zu bauen. Der Bestand bietet zunächst mehr Anlass, sich die Stellschrauben zu suchen, an denen man konstruktive Fragen in die Genauigkeit spielen kann. Im Neubau ist es das gesamte Gebäude, auf das man das Augenmerk hat.
Meistens weiß man schon früh im Entwurf, wo es konstruktive Herausforderungen geben wird. Das betrifft nicht nur die rein handwerkliche Machbarkeit, sondern auch die Anforderungen an die Bauphysik und den Brandschutz. Das ist eben die „seismische Stelle“ im Entwerfen, die Stelle, an der man wie ein Erdbebenmesser als Entwerfer*in mit dem Stift schon spürt, wo es schwierig wird. Diese Stelle zu lösen und umzusetzen und so zur Geltung zu bringen, dass es vielleicht im Durchlaufen des Hauses gar nicht mehr zum Tragen kommt, sondern die Entwurfsidee als Ganzes gesehen wird, ist die hohe Kunst.
Daran sieht man auch die Brückenfunktion, welche Andrea Deplazes, Architekt und Professor an der ETH Zürich, anspricht: Der Entwerfer oder die Entwerferin denkt das Konstruieren nicht nur in eine Richtung. Es gibt verschiedene Einflüsse, die sich einschreiben. Die Idee muss jedes Mal geprüft werden, ob sie noch trägt. Das ist eine Qualität, die nicht so einfach zu erlernen und umzusetzen ist.
Sind die Konstruktionen heute anders als früher? Auf was muss man achten? Kann man konstruktiv mischen?
Das ist die wichtigste Erkenntnis, die mich aus dem Büro heraus in die Energie gezogen hat, selbst forschen zu wollen. Sehen wir uns die Konstruktionen eines Altbaus an, beispielsweise bei unserem Projekt Remise Rosé in Berlin-Rosenthal: Die Kappendecken in der Remise sind noch mit Stahlträgern und Ziegeln und einer dünnen unbewehrten Betonschicht ausgestattet und dann kommt man im Bogenstich auf acht bis neun Zentimeter an der dünnsten Stelle. Ebenso der Fußbodenaufbau.
Man hat früher sparsamer, schlanker und schmaler gebaut und dazu Formen gefunden, wie hier die Kappendecke, die das formal ermöglicht haben. Wenn wir heute mit dicken Flachdecken bauen und Stahlbetonbodenplatte bauen, um den heutigen statischen Anforderungen zu genügen, erschreckt einen der Materialeinsatz. Wenn man die EU-Normen zur Steifigkeit von Decken heranzieht, kann man die Berliner Altbaudecke aus Holz nicht mehr bauen, weil sie dazu neigt zu schwingen. Da haben wir viel Austausch und Diskussionen mit den Statiker*innen, wie wir hier minimieren können, ohne die Energiestandards zu verlieren und das Ganze noch berechnen zu können. Hier können wir wiederum fragen, wie wir die Standards erweitern sollten. Denn, so die Beobachtung von Professor Dr. Christoph Gengnagel von der Universität der Künste in Berlin – das Modell als statisches Modell zeigt die Berechenbarkeit, jedoch bildet es deshalb nicht zwingend den optimierten Kräftefluss ab.
Aus all diesen Erkenntnissen und Diskussionen heraus, insbesondere aus den schlaflosen Nächten zur Realisierung der Birkenrinde, kommt der etwas „laute“ Titel des konstruktiven Ungehorsams für unsere Konferenz.
Interview von Bianca Loschinsky im MAGAZIN der TU Braunschweig