Facetten der Geschlechtlichkeit

Versuch, auf die Fragen der Mail von der Stuttgarter Zeitung vom 26.2.2013 eine Antwort zu finden

Ingeborg Wender, TU Braunschweig

28.6.2013

Heute würde ich im Rahmen der Geschlechtlichkeit eher von rollentypischen denn rollenspezifi-schen Haltungen sprechen, da die traditionellen Rollenbilder durchaus noch in unseren Köpfen vor-handen sind, aber erheblich "ausfransen". Den Frauen ist es insbesondere in den letzten Jahrzehnten erfolgreich gelungen, aus den tradierten Rollenvorschriften auszubrechen und Rollenanteile wie z.B. die Berufstätigkeit für sich neu zu definieren. Den Männern fällt es deutlich schwerer, sich von den überlieferten Vorstellungen zu lösen. Für die Beharrlichkeit am Festhalten traditioneller Rollenbilder zeugt z.B. der aktuelle Jungenbildungsbericht vom BMFSFJ. Die Jungen heute bewerten demnach die Familie für sich als wichtig, sehen sich selber aber im Zukunftsentwurf wie eh und je vor allem als erwerbstätige Person denn als fürsorgenden Familienvater.

Dies Ergebnis überrascht nicht, wenn wir einen Blick in die Spielzeugwelt werfen. Hier finden die jungen Männer für ihre Position beträchtliche Unterstützung. In den Spielzeugkatalogen der Spielzeugindustrie und in den Auslagen der Warenhäuser finden sich streng getrennt Mädchen- und Jungen spezifische Spielzeugwelten, nach Farben sortiert (Pink-rosa-Farben für Mädchenspielzeuge, blaue und dunkle Farben für Jungenspielzeuge). Puppen, Puppenwagen, Herd und Schloss mit diversen Einrichtungsgegenständen sind den Mädchen vorbehalten, Autos, Flug¬körper, Ritterburgen mit kämpfenden Rittern und Feuer speienden Drachen sind eindeutig den Jun¬gen zugeordnet. Aber auch die Medien verbreiten diese Geschlechter spezifischen Bilder. So fand sich jüngst in der Braunschweiger Zeitung ein großes Bild mit zwei Fotos, auf denen Mädchen mit Puppenwagen abgebildet waren, die liebevoll ihre Puppen im Arm hielten; ein Foto aus dem Jahr 1923, das andere aktuell aufgenommen. Die Überschrift lautete: "Puppenmütter ändern sich nie". Für Eltern und Angehörige der Familie, die Geschenke für Kinder suchen, wird hier ein fester Orientierungsrahmen vorgegeben, der sich offenbar den überlieferten Werten und Rollen verpflichtet fühlt. Die Betroffenen können sich den Konsumzwängen der Wirtschaft kaum entziehen. Aber verbleibt nicht ein Spielraum und warum wird dieser Spielraum dann nicht genutzt? Und agiert die Spielzeugindustrie in solch hartnäckiger Weise traditionsgebunden, weil ihre Angebote willkommen sind? Es stellt sich die Frage, ob auf der Ansprechseite, auf der Seite der Kinder nicht entsprechende Be¬dürfnisse, Vorlieben und Präferenzen vorhanden sind, so dass die "Geschenke" willkommen geheißen werden, bildlich gesprochen "Der Schlüssel passt ins Schlüsselloch".

Eine Studentin hat im Rahmen einer meiner Veranstaltungen eine kleine Beobachtungsaufgabe in einem Spielzeugladen durchgeführt. Sie beobachtete 23 Kinder, 11 Mädchen und 12 Jungen im Alter von 5 bis 11 Jahren. Das Ergebnis war ziemlich eindeutig. 9 der Mädchen drückten und streichelten die ausgestellten Puppen, von den Jungen niemand, einer betrachtete mit Distanz eine Puppe. 6 der Mädchen und zwei Jungen hantierten mit den Küchensachen, alle Mädchen beschäftigten sich mit pinkfarbenen Spielsachen, von den Jungen niemand, sie wandten sich alle den blaufarbenen Spielsachen zu, hier fanden sich auch drei Mädchen. Alle Jungen spielten mit Fahrzeugen wie Autos und Baggern, von den Mädchen niemand, 10 Jungen warfen sich Bälle zu, von den Mädchen zwei, 8 Mädchen und 7 Jungen spielten mit Playmobilfiguren (geschlechtsneutrales Spielzeug?), allerdings unterschieden sich die Interaktionsstile, bei den Jungen schubsten und behakelten sich die Figuren, die Mädchen gingen mit den Figuren spazieren oder stellten Gesprächsszenen nach.

Bischof-Köhler (2006), Expertin in Geschlechterfragen, berichtet in ihrem Buch "Von Natur aus anders" von einem Jungen, der, als er eine Sprechpuppe geschenkt bekam, nichts Besseres zu tun hatte, als der Puppe den Bauch aufzubrechen, um in den Besitz des Lautsprechers zu kommen. Bereits ab ca. dem ersten Jahr - so die Studien - wählen die Kleinkinder mehrheitlich für sich ge-schlechtstypisches Spielzeug. Mit 2,2 - 3 Jahren haben die Kinder genaue Vorstellungen, welche Tätigkeiten und Eigenschaften jeweils Frauen und Männer ausüben, etwas später wissen sie, was Mädchen bzw. Jungen tun. Nach Bem (1981) bilden die Kinder Schemata aus, die Weiblichkeit bzw. Männlichkeit charakterisieren. Sie suchen in ihrer Umwelt nach immer neuen Informationen, um die Schemata mit Inhalten zu füllen. Informationen, die nicht in die bisher aufgebauten Schemata passen, werden ignoriert oder umge¬deutet. Das Bild soll stimmig sein. Diese Schemata werden auf die eigene Person bezogen und bilden den Rahmen für die eigene Identität. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bereits 6 monatige Säuglinge weibliche und männli-che Gesichter und Stimmen unterscheiden können, ab erstem Jahr sind sie in der Lage, die Stimmen den Gesichtern nach Geschlecht zuzuordnen. Ab 2,2 bis 2,7 Jahren können Kinder das Geschlecht von Erwachsenen richtig zuordnen, ab 2,2 bis 3,4 Jahren besitzen sie Wissen über das eigene Geschlecht.

Ich denke nicht, dass diese Leistungen allein auf Lerneffekten beruhen; es spricht einiges dafür, dass genetisch vorgegebene soziale Präadaptionen Einfluss nehmen, d.h. dass das binäre Kategoriensystem Geschlecht in menschlichen Gehirnen vor und kurz nach der Geburt vorbereitet werden könnte.

Aus einem evolutionärem Blickwinkel gesehen ist es sicherlich für das Fortpflanzungsgesche¬hen von Vorteil, wenn Frauen und Männer das Geschlecht bei sich wie bei anderen schnell identifizieren können, um den für den Geschlechtsakt passenden Partner/die passende Partnerin zu finden, damit die Nachkommenschaft gesichert ist. Auch die Spiel(zeug)präferenzen können als Vorbereitung für die anstehenden Aufgaben bei der Fürsorge gegenüber dem Nachwuchs betrachtet werden.

Das Wissen über die zeitliche Stabilität der Geschlechtszugehörigkeit entwickelt sich etwas später mit im Durchschnitt von 4,6 Jahren (wenn ich ein Mädchen bin, kann ich später kein Junge mehr werden). Die Geschlechtskonstanz (die Unveränderbarkeit des Geschlechts über Situationen hinweg (z.B. wenn ich als Junge einen Rock anziehe, bin ich immer noch ein Junge) ) wird mit 5 bis 7 Jahren erkannt.

Ist die Erkenntnis über die Identität gesichert, können die Kinder offenbar flexibler mit den Ge-schlechterattributen verfahren. So können sie erkennen und es akzeptieren, dass nicht alle Mädchen bzw. alle Jungen den stereotypen Geschlechtervorstellungen entsprechen. Die vormals starren Geschlechtsbilder der Kinder werden flexibler. Die Flexibilität im Umgang mit Geschlechterstereotypen erreicht mit 8 - 10 Jahren einen gewissen Höhepunkt, wie Trautner et al.(1988) herausgefunden haben.

Einige Fachexperten/innen, z.B. Hertzer (1999) vertreten die Auffassung, dass ein Kind in einer Gesellschaft, die verhältnismäßig streng nach Zweigeschlechtlichkeit strukturiert ist, eine eindeutige Geschlechtsidentität als weiblich bzw. männlich entwi¬ckeln sollte, um einen Orientierungsrahmen für seine Verhaltenssicherheit aufzubauen. Erst diese Sicher¬heit würde die Möglichkeit bieten, später souverän und spielerisch mit den verschiedenen Merkmalen der Geschlechterrollen und -Stereotypen umzugehen. Erst durch die stabile und konsistente Zuschreibung einer Geschlechtsidentität wäre der Mensch in der Lage, Anteile von Gegengeschlechtlichkeit, von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit, bei sich als Mann bzw. als Frau zu entdecken und zuzulassen. Die Tiefenpsychologie (z.B. Freud (1908)) hatte ähnliche Vorstellungen bereits um 1900 vertreten.

(Diese Aussagen werden modernen "queer"-Vorstellungen nicht gerecht, deren Vertreter/innen für eine Vielseitigkeit von Ge­schlechterkategorien eintreten. Danach sollte die Dichotomie der Geschlechter aufgehoben werden, um weiteren Geschlechtervariatio­nen Raum zu geben. "Gibt es künftig ein drittes Geschlecht?" titelte Psychologie heute im November 2011 in Anbetracht der Diskussion des Deutschen Ethikrates zur Intersexualität.)

Suchen wir nach Determinanten für die o.g. Entwicklungsprozesse, so kommt es letztendlich auf das harmonische Zusammenspiel von genetischen Vorgaben, evolutionären Abhängigkeiten, innerpsychischen Regelungsprozessen und familiären sowie gesellschaftlichen Sozialisationseinflüssen an. Für eine Entwicklung, die auf das Wohlbefinden des Kindes ausgerichtet ist, sollten die genannten Komponenten, was das Geschlecht betrifft, in eine Richtung weisen. Dabei sollten jedoch Druck und Zwang vermieden werden. Vielmehr sollten Spielräume eingeräumt bzw. aufgebaut werden, um den individuellen Variationen Gelegenheiten zu bieten, sich zu entfalten. Als für die Entwicklung von Kindern verantwortliche Erziehende sollten wir sensibel auf die Aktivitäten der Kinder reagieren, vielfältige Angebote unterbreiten, viele Möglichkeiten eröffnen, aber auch behutsam eingreifen, um unsere Vorstellungen von Geschlechtlichkeit zu realisieren.