Die "Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt" ist im Jahr 2015 im Namen der prominenten Braunschweiger Schriftstellerin zur Förderung der Auseinandersetzung mit Genderdimensionen in der Gegenwartsliteratur ins Leben gerufen worden. Ricarda Huch gilt als Braunschweigs große Stimme, welche humanistische Tradition und Geschichtsschreibung in die literarische Moderne überführte. Gleichzeitig hat sie als Frau im öffentlichen Leben und in der kulturellen Praxis ihrer Zeit weibliche (und männliche) Identitäten in Frage gestellt.
2020 erhält den Preis der Ricarda Huch Poetikdozentur Sasha Marianna Salzmann, Autor*in des in 15 Sprachen übersetzten Romans „Ausser sich“ sowie mehrfach ausgezeichnete Dramatiker*in, Regisseur*in und Kurator*in am Maxim Gorki Theater Berlin.
Covid-19 hat die Gesellschaften europaweit und global im Griff. Was lässt sich aus Sicht feministischer Diskussionszusammenhänge zu der durch das Virus ausgelösten gesellschaftlichen Entwicklung sagen? Sind jetzt (ersehnte/befürchtete) Wertewechsel möglich oder wird vielmehr an alteingesessenen Strukturen umso nachhaltiger festgehalten? Welche Beobachtungen generiert die Situation, was können zu diesem Zeitpunkt Künstler*innen und Denker*innen bereits oder wieder erkennen?
Sasha Marianna Salzmann, ausgezeichnet mit der diesjährigen Ricarda Huch Poetikdozentur, initiiert in diesem Rahmen vier Gespräche: mit der Soziologieprofessorin Sabine Hark, dem Autor und Dramaturg Necati Öziri, der Dramatikerin Sivan Ben Yishai und der Schriftstellerin Emma Braslavsky. Sie setzen der rasend schnellen globalen Entwicklung mit ihren naturwissenschaftsbasierten Entscheidungen und rasch gefassten Notfall-Maßnahmen eine radikal entschleunigte, intellektuelle Technik entgegen: Nachdenken; ungesehene Zusammenhänge ansprechen; ignorierte Konsequenzen benennen; blinde Voraussetzungen klären.
Die diesjährige Poetikdozentur verläuft angesichts von Covid-19 in veränderter Form: Die vier geplanten Gespräche werden aufgezeichnet und online von Juli bis Oktober zur Verfügung gestellt. Begleitet werden sie von Grußworten, sowie einer Kurzlaudatio. Die Gestaltung der Preisverleihung inkl. Lesung und eines Vortrages werden im Dezember digital in Form eines Webinars stattfinden.
Ab dem 20. Juli gehen online
die Grußworte von der Kulturdezernentin der Stadt Braunschweig, Dr. Anja Hesse, und der Präsidentin der TU Braunschweig, Prof. Dr.-Ing. Anke Kaysser-Pyzalla
die Kurzlaudatio von Dr. Carolin Bohn
sowie die ersten zwei Gespräche:
Im Gespräch I: Sasha M. Salzmann – Prof. Dr. Sabine Hark
„Brüderhorde“
In Sigmund Freuds Kulturtheorie ermordet die Brüderhorde den Vater, Clanchef und Alleinherrscher. Dadurch entsteht – temporär und auf ein Geschlecht beschränkt – geteilte männliche Herrschaft, was zunächst nach der Urszene der Demokratie klingt. Im Gespräch gehen Sasha Salzmann und die Soziologin Sabine Hark dem Begriff aus feministischer Perspektive nach: Ist das heute anscheinend zunehmende (Wieder-)Erstarken von „Brüderhorden“ eine teils gewaltvolle, teils hilflose Reaktion auf die Möglichkeit einer nicht-binären (geschlechtlichen) Logiken folgenden Gesellschaft oder birgt es auch Potentiale für eine geschlechtergerechte Gesellschaft?
Im Gespräch II: Sasha M. Salzmann – Necati Öziri
„Für wen schreiben wir?“
Im Gespräch zwischen den Autor*innen Sasha Salzmann und Necati Öziri, die nacheinander das STUDIO Я am Maxim Gorki Theater in Berlin geleitet haben, entspinnen sich Gedanken darüber, für wen sie schreiben – und für welches Heute, für welche Zukunft, aufgrund welcher Vergangenheit und Geschichte. Wie kann erzählt werden, was heute wirklich erzählt werden muss, weil es gesellschaftlich brennt – Desintegration, kanonische versus queere Blicke, Rassismus, Migration. In das Gespräch sind auch eine Reihe von Fragen an Sasha Salzmann eingeflossen, die Studierende der Germanistik (Technische Universität Braunschweig) und des Darstellenden Spiels (Hochschule für Bildende Künste Braunschweig) entwickelt haben.
Bis Herbst gehen zwei weitere Gespräche online:
Im Gespräch III: Sasha M. Salzmann – Sivan Ben Yishai
„The Body as an Argument“
Im Gespräch mit der Dramatikerin Sivan Ben Yishai werden Fragen nach Geschlechtsidentität, Liebe, Immigration, Selbst-/Sabotage, Wissen und Wollen, Sprechen und Begehren mit ihrer körperlichen Seite kurzgeschlossen und von dort aus gestellt. Ist Identität eine Körperinschrift, ist der Körper sich selbst Inschrift, ist er Prozess seiner Umschrift, was und wie denkt und spricht ein ‚palimpsestuöser‘ Körper: Welches Verständnis steht hinter der Rede vom Textkörper, der andere Textkörper integriert und zitiert? Wo fängt Sexualität an, wo hört Körper auf? Was passiert, wenn das Körperliche, das materielle ein-Körper-Sein als Argument zählt? Was ist und wie weit geht das „Materielle“? Was sagt aktuell der feministische Materialismus dazu? Welche Rolle spielt der eigene Körper beim Schreiben einerseits von Theatertexten andererseits von Romanen, welche Rolle spielen die Körper der Schauspieler*innen? Was ist eine verkörperte Sprache?
Im Gespräch IV: Sasha M. Salzmann – Emma Braslavsky
„Der Android ist eine Frau“
Im Gespräch knüpfen Sasha M. Salzmann und die Schriftstellerin und Kuratorin Emma Braslavsky an deren letzten Roman „Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten“ (2019) an. Was macht den Roboter einem Geschlecht zugehörig – Zuschreibung, Programmierung, Gelegenheit, Anpassung? Wo treffen sich Maschinenmenschen und feministische Ansätze, unsexuelle/sexualisierte Körper und anpassungsfähige, dienstbereite Hubots?
Kontakte: c.bohn@tu-braunschweig.de, j.roehnert@tu-braunschweig.de, annette.boldt-stuelzebach@braunschweig.de, gender-studies@tu-braunschweig.de