Wörterbuch 'Schriftlinguistik'

In wissenschaftlichen Disziplinen geht es in zentraler Weise darum, sich über Details seines Gegenstandsbereichs präzise austauschen zu können. Dafür braucht man eine Fachsprache. Zu einem großen Teil bestehen Fachsprachen aus spezifischen Fachwörtern, aus Termini. Diese Termini sollten eindeutig und präzise definiert sein, um eine unmissverständliche Kommunikation zu ermöglichen. Unsere Alltagssprache reicht für diese Zwecke nicht aus, weil die dort gebrauchten Wörter gewöhnlich eine sehr große Bedeutungsbreite haben und weil ohnehin für die Gegenstände der Wissenschaft im Alltag nicht unbedingt passende Ausdrücke existieren. Unser Fachwörterbuch arbeitet in diesem Sinne die Terminologie der Schriftlinguistik auf.

Die Schriftlinguistik ist ein Teilbereich der Sprachwissenschaft, der sich mit Eigenschaften der geschriebenen Seite von Sprache beschäftigt. Themengebiete der Schriftlinguistik sind z.B. die Orthographie mit Theorien zur Erklärung ihrer Funktionsweise oder auch die Typographie samt Drucktechniken. Ein anderer zentraler Bereich sind Lesen und Schreiben als zentrale Kompetenzen von Individuen, die erworben werden und die beispielsweise in der Anwendung Störungen unterliegen können. Außerdem betrachtet die Schriftlinguistik Gestalt und Funktion einzelner Zeichen, die in Schriften verwendet werden, oder auch generell die vielen unterschiedlichen Schriften, die für die Sprachen der Welt benutzt werden oder auch in der Vergangenheit genutzt wurden. Denn tatsächlich ist die Geschichte der Menschheit zu einem wesentlichen Teil die geschriebene Geschichte, was Wissen über die Eigenschaften der geschriebenen Sprache der Vergangenheit zu einem zentralen Aspekt des kulturellen Erbes macht. Auch wenn diese einzelnen Gegenstände in der Linguistik eine durchaus lange Forschungstradition haben, ist die Bündelung zu einer einheitlichen linguistischen Teildisziplin eine neuere Entwicklung, die erst vor gut 40 Jahren eingesetzt hat, und zwar im deutschsprachigen Wissenschaftsraum, der international in vielen Teilbereichen der Schriftlinguistik als durchaus führend eingeschätzt werden kann. Unser Wörterbuch leistet für die Sichtbarkeit der Schriftlinguistik als eines wesentlichen Teilgebiets der Sprachwissenschaft einen wichtigen Beitrag.

Die ‚Systematische Einführung‘ ist ein Kapitel, das sich in den Vorspanntexten des Wörterbuchs befindet, also bevor der alphabetische Teil mit den einzelnen Termini beginnt. Hierbei handelt es sich weniger um eine Einführung in das vorliegende Wörterbuch als vielmehr um eine Einführung in das linguistische Teilgebiet Schriftlinguistik. Dieser Text ist auch ganz eigenständig zu rezipieren. Wenn er isoliert veröffentlicht werden würde, wäre es ein kleines Büchlein von rund 100 Seiten Umfang. Mit dieser Einführung legen wir dar, welche Gebiete wir der Schriftlinguistik zuordnen und welches Wissen zu diesen Gebieten in der Wissenschaft bislang erarbeitet wurde. Dazu gibt es ein umfangreiches Literaturverzeichnis. Auf dem Büchermarkt existieren derzeit einige wenige Einführungen in die Schriftlinguistik, zu denen sich unser Text ergänzend gesellt. Aber er ist natürlich im Wörterbuch etwas versteckt und nicht leicht als relevante Einführungsliteratur zu entdecken.

Da gibt es durchaus Unterschiede. Die genannte Zahl 2.300 ist für unseren Band zwar nicht falsch, aber doch eigentlich ein bisschen hoch gegriffen. Beinahe die Hälfte der Artikel hat nämlich gar keinen eigenen Text, sondern nur einen Verweis auf einen anderen Artikel, z.B. weil Termini synonym sind so wie Orthographie und Rechtschreibung. Zu ungefähr 1.200 Termini gibt es eine regelrechte inhaltliche Bearbeitung. Darunter sind Kurzartikel, die neben dem Namen des Terminus eine Bedeutungsdefinition, Verweise auf andere, verwandte Termini sowie relevante Literaturangaben aufweisen. Der nächste Typ sind Einzelartikel, und das ist der Normalfall eines Wörterbuchartikels in WSK. Diese haben einen Umfang von etwa einer viertel bis zu einer ganzen Druckseite und liefern über die Bestandteile der Kurzartikel hinaus weiterführende Erklärungen, die verschiedenster Art sein können, je nachdem, was für einen bestimmten Terminus sinnvoll ist. So können Beispiele gegeben, die Geschichte eines Terminus nachgezeichnet, die Relevanz des Terminus im Fach erörtert oder auch Bilder mitgeliefert werden. Rund 50 Artikel sind deutlich länger. Diese sogenannten Synopseartikel haben den Charakter von Handbucheinträgen und stellen jeweils einen Teilbereich unseres Wörterbuchgegenstands in einem größeren Zusammenhang dar. Unser längster Artikel ist der zu Schriftgeschichte; er hat einen Umfang von immerhin sechseinhalb Seiten.

Das ist eine Frage, die natürlich niemand wirklich beantworten kann. Herbert Ernst Wiegand, der mit Stefan J. Schierholz für die Konzeption der WSK-Reihe verantwortlich ist, hat um die Jahrtausendwende herum einmal abgeschätzt, dass es in der Linguistik ungefähr 25.000 relevante Termini gibt. Deshalb haben die beiden den Gegenstand der Linguistik grob in 25 Teilgebiete untergliedert, für die je ein WSK-Band mit rund 1.000 Termini entstehen sollte. Auch wenn unser Band die Nummer 3 trägt, sind nun tatsächlich schon vier Bände erschienen, da der erste Band zur Grammatik in zwei Teilbände aufgeteilt wurde (zu Formenlehre und zu Syntax). Ich hoffe, dass es bald mehr werden. Natürlich gibt es in der Linguistik auch andere, ältere terminologische Wörterbücher, die aber von ihrem Umfang her deutlich eingeschränkter sind. Speziell zur Schriftlinguistik ist unser Buch meines Wissens das erste terminologische Wörterbuch überhaupt.

Das Wörterbuch ist grundsätzlich auf Deutsch verfasst. Zu jedem Terminus gibt es aber mindestens eine englische Entsprechung. Außerdem liegt die jeweils auf Deutsch gegebene Definition auch in englischer Sprache vor. Zu einem gewissen Anteil ist das Wörterbuch also zweisprachig. Damit soll es auch dabei helfen, englisch geschriebene Fachtexte besser verstehbar zu machen. Überhaupt haben wir für das Wörterbuch nicht nur die deutschsprachige Terminologie berücksichtigt, sondern auch die englischsprachige. In einer Reihe von Fällen mussten wir eine deutsche Entsprechung eines im englischen Diskurs vertretenen Terminus eigens prägen.

Rüdiger Weingarten und ich waren im November 2004 zum ersten Mal beim Verlag, um in das Konzept der damals ganz neuen WSK-Reihe eingewiesen zu werden. Wir haben also ziemlich genau 20 Jahre an diesem Projekt gearbeitet (der dritte Herausgeber Said Sahel ist erst später in unser Team gestoßen). Schierholz und Wiegand haben natürlich schon einige Jahre früher mit der Gesamtkonzeption begonnen. Geplant war übrigens, dass die ersten Bände, und dabei auch unserer, im Jahr 2008 erscheinen sollten. Aber Großprojekte brauchen immer mehr Zeit als erwartet.

Da kann man viele Gründe nennen, aber für mich ist erstmal wesentlich, dass der Band nun abgeschlossen ist und WSK physisch sichtbar wurde. Neben technischen und organisatorischen Unwägbarkeiten war auf jeden Fall die Suche nach geeigneten Autoren nicht so einfach, wie wir das erwartet hatten. Das lag zum einen daran, dass ältere, erfahrene Kollegen oft wenig Interesse an einer solchen Mitarbeit zeigten (was rückblickend angesichts der langen Entstehungszeit sicher eine gute Entscheidung war), zum anderen aber auch daran, dass es für junge Leute nicht immer so attraktiv erschien, an WSK mitzuarbeiten, wie wir gedacht hatten. Ich hätte damit gerechnet, dass es als eine große Ehre angesehen wird, an einem solch wichtigen Publikationsprojekt mitwirken zu dürfen. Tatsächlich ist es heutzutage für viele Wissenschaftler aber für die eigene Sichtbarkeit viel wesentlicher, Drittmittel einzuwerben. WSK ist ein Erstmittelprojekt und das ist heutzutage nicht mehr so schick wie früher. Die Erwartung der Drittmitteleinwerbung war natürlich auch für uns Herausgeber relevant, weshalb wir nicht so viel Zeit in WSK investieren konnten, wie wir es uns eigentlich gewünscht hätten.

De Gruyter ist für die Linguistik in Deutschland, aber auch international, einer der führenden Verlage. Nur ein großer Verlag kann ein solches Vorhaben wie WSK überhaupt stemmen. Immerhin musste der Verlag lange Jahre in das Projekt investieren, bevor der erste Euro damit verdient werden konnte. Dabei ging es weniger darum, die Grundkonzeption zu finanzieren, als vielmehr darum, ein im Internet verfügbares Redaktionssystem konzipieren und programmieren zu lassen, das das verteilte Arbeiten an vielen Orten zugleich ermöglicht und alle erforderlichen Schnittstellen bietet. Tatsächlich hat sich das erste genutzte System als wenig anpassungsfähig erwiesen; es wurde nach wenigen Jahren durch ein zweites ersetzt und dieses schließlich durch ein drittes. Das ist auch ein Grund für die lange Entstehungszeit von WSK.

Ungefähr 90 Personen haben an unserem Band mitgeschrieben. Darunter sind etablierte Wissenschaftler, aber auch eine große Zahl von Nachwuchswissenschaftlern. Die meisten Autoren arbeiten in Deutschland, Österreich oder in der Schweiz, aber wir haben auch Beiträger, die in den Niederlanden, in Luxemburg, Tschechien, Ungarn oder Malta wirken. Die größte Gruppe von Autoren, nämlich ein Dutzend, ist übrigens mit der TU Braunschweig verbunden. Angesichts der langen Bearbeitungszeit ist es leider auch so, dass mindestens zwei Autoren das Erscheinen des Bands nicht mehr erleben konnten. Außerdem haben wir zu einer Handvoll Autoren den Kontakt verloren und wissen nicht, was aus ihnen geworden ist. Im Schnitt ist ein Autor also für etwa 13 Artikel zuständig. Aber ein solcher Durchschnittsautor ist gar nicht typisch für unser Buch. Es gibt Autoren, die sich nur um einen einzigen Terminus gekümmert haben, andere haben deutlich mehr geschrieben. Ich selbst habe etwas über 100 Artikel verfasst, wobei ich zwei Drittel davon im Jahr 2023 geschrieben habe. Dabei habe ich Termini übernommen, zu denen wir keinen anderen Autor finden konnten oder deren vorgesehener Autor in der Zwischenzeit wieder abgesprungen war. Dieses Vorgehen war notwendig, um dieses Projekt irgendwann doch einmal abschließen zu können.

Das haben wir uns gerade in den Anfangsjahren der Arbeit an unserem Wörterbuch auch gefragt. Das war die Zeit, wo Wikipedia immer größer wurde und, das muss man zugeben, auch immer besser. In den Bereichen, wo es eher um Sachgegenstände geht, können Wikipedia-Artikel durchaus den Texten in unserem Wörterbuch überlegen sein. Über Diakritika und Interpunktionszeichen findet man dort mitunter mehr als bei uns, weil es bei Wikipedia z.B. keine Platzbeschränkung gibt, aber auch, weil die Autorenschaft ungleich größer ist. Unsere Texte haben aber einen gleichbleibenden Aufbau und eine interne Verweisstruktur, die die Durchdringung zusammenhängender Teilbereiche ermöglicht, was Wikipedia so nicht leistet, und wir haben natürlich eine wissenschaftliche Redaktion, die für die Qualitätssicherung zuständig ist. Wenn es außerdem, und das ist wesentlich, um theoretische Konzepte geht, kann Wikipedia grundsätzlich nicht mithalten. Wenn ich mich über die Problematik des Terminus Graphem informieren möchte, schaue ich besser in WSK nach, und wenn ich etwas über das Konzept morphologisches Prinzip erfahren möchte, finde ich Stand heute dazu in Wikipedia keinen Eintrag, aber in WSK 3 einen vierseitigen Synopseartikel. Wikipedia hat grundsätzlich Laien als Zielgruppe, WSK dagegen Wissenschaftler. Das macht einen gravierenden Unterschied.

Ja und nein. Natürlich erwartet niemand, dass sich Studierende Bücher zu einem solchen Preis anschaffen. Nicht einmal Wissenschaftler werden dieses Geld investieren. Wobei man dazusagen muss, dass die Anfangsplanung völlig anders aussah. Vor 20 Jahren wurde noch damit gerechnet, dass Studierende sich die einzelnen WSK-Bände zu einem vernünftigen Preis anschaffen können (was zu einer durchaus hohen Auflage hätte führen sollen). Die Verkaufsstrategie des Verlags hat sich im Laufe der Jahre aber geändert, indem insbesondere digitale Lizenzen verkauft wurden. Seit 2013 sind z.B. über unsere UB digitale Vorveröffentlichungen fertiger Artikel abrufbar (in dem Kontext trägt unser Band übrigens noch die Nummer 5). Auch die vollständigen Bände sind über die UB in digitaler Form greifbar, sodass die Nutzung für unsere Studierenden letztlich kostenlos ist.

Wenn ich nochmal in der gleichen Situation wie im Jahr 2004 wäre, würde ich das auf jeden Fall wieder machen. In meinem jetzigen wissenschaftlichen Alter aber werde ich eine vergleichbare Herausgabetätigkeit nicht noch einmal übernehmen. Am Ende bin ich natürlich stolz, auf dem Cover eines tausendseitigen Fachwörterbuchs meinen Namen stehen zu sehen. Leider haben Bücher aber nicht mehr ein so hohes Ansehen, wie sie es früher einmal hatten, und das ist nicht nur in Braunschweig so. Kurzfristig ist ein Wörterbuch natürlich nicht so sichtbar wie eingeworbene Drittmittel, langfristig aber vielleicht sogar mehr. Überhaupt hat für mich als Geisteswissenschaftler die Publikation eines Buchs einen großen Stellenwert, vergleichbar vielleicht mit der Relevanz eines Patents für Naturwissenschaftler oder Ingenieure.