Ein weites Forschungsfeld der Chemie war und ist das isolierte Molekül sowie dessen Darstellung und Charakterisierung. Die mittlerweile zur Verfügung stehenden modernen Methoden der präparativen sowie der analytischen und strukturaufklärenden Chemie haben den Wissensstand auf dem gesamten Gebiet der Chemie dramatisch vermehrt, so dass sich Forschungsaktivitäten auf spezialisierte Molekülklassen oder Umweltbedingungen verlagert haben, wo der heutige Wissenstand über das isolierte Molekül noch unzureichend ist.
Selbst die detaillierteste Kenntnis über Struktur und Dynamik eines isolierten Moleküls erlaubt im allgemeinen jedoch nicht die Vorhersage von Eigenschaften komplexer übergeordneter Organisationsformen. Die Dynamik und Organisation komplexer chemischer Systeme geht als profilbildender Forschungsschwerpunkt der Braunschweiger Chemielandschaft daher über die Charakterisierung isolierter Moleküle hinaus und hat das Verhalten und die Wechselwirkung von Teilchen in einer komplexen chemischen Umgebung zum Forschungsgegenstand. Die Komplexität des untersuchten Systems ist dabei gegeben durch
Dank der Vielfalt der Braunschweiger Chemie können Einfluss und Auswirkung der Umgebung chemischer Systeme unter den verschiedenartigsten Blickwinkeln untersucht werden, von der Lebensmittelchemie über die Chemie biologisch relevanter Systeme und die Polymerchemie bis hin zur Festkörperchemie und zur Tieftemperaturchemie in Gasphasen-Systemen. Vor diesem Hintergrund führt die perspektivisch stärkere Fokussierung der Aktivitäten in den einzelnen Organisationseinheiten des Fachbereichs auf die Untersuchung von Organisation und Dynamik komplexer chemischer Systeme zu einer Steigerung der Qualität und Effizienz der Forschung durch synergetische Effekte.
Ein gewünschter Effekt ist der Export und Import von Technologien und Untersuchungsmethoden, die bislang noch oft einem kleinen Publikum vorbehalten sind. Beispielhaft lässt sich hier eine interdisziplinäre Kooperation zwischen den Instituten für Pharmazeutische Technologie, Organische Chemie sowie Physikalische und Theoretische Chemie anführen, bei der typisch physikochemische, nämlich laserspektroskopische Methoden eingesetzt werden, um unter Zuhilfenahme organisch-synthetischer Verfahren eine pharmazeutisch relevante Fragestellung, nämlich die Aufklärung der Transportdynamik des komplexen Systems »Pharmazeutikum in Haut« zu untersuchen.
Eine große Zahl weiterer komplexer Systeme wird in praktisch allen Organisationseinheiten des Fachbereichs Chemie erforscht. Einige nachstehend aufgeführte Beispiele für die stattfindenden Aktivitäten sollen das Potential verdeutlichen, das der Forschungsschwerpunkt »Dynamik und Organisation komplexer chemischer Systeme« eröffnet.
So reagieren Stoffgemische typischerweise auf unübersichtlichen Reaktionswegen zu Produkten, deren mechanistisch-dynamische Deutung und quantitative Charakterisierung typische Fragestellungen für die Technische Chemie, Organische Chemie, Chemie der Atmosphäre, Festkörperchemie und Plasmachemie darstellen. Die grundsätzliche Erforschung von Reaktionswegen führt unmittelbar zur anwendungsorientierten Optimierung, was entsprechende Kooperationen mit ingenieurwissenschaftlichen Instituten und der Industrie zur Folge hat.
Die Stabilisierung hochreaktiver kleiner Einheiten führt zu supramolekularen Aggregaten, also zu neuartigen mehrfunktionalen Systemen im mesoskaligen Übergangsbereich Molekül-Supramolekül-Material. Untersuchungen hierzu werden von der Anorganischen Chemie, Lebensmittelchemie, Makromolekularen Chemie, Organischen Chemie und Physikalischen Chemie durchgeführt. Eine supramolekulare Architektur führt zu vielfältigen Schicht-, Stapel- und Netzwerkstrukturen, so dass bei entsprechendem Kenntnisstand der grundlegenden Prozesse ein "Engineering" der Funktionalität möglich sein sollte. Wie wesentlich die Organisation solcher komplexer Systeme auf Stoffeigenschaften sein kann, zeigen Untersuchungen an Oligo- und Polysacchariden, aber auch an biologischen Systemen bis hin zur gezielten Bildung chemischer Signalstoffe im Tier- und Pflanzenbereich. In diesem Zusammenhang wird auch untersucht, inwieweit man in Analogie zu den Multienzymkomplexen in der Natur mehrere metallkatalysierte Reaktionen in einem System einsperren kann. Die vielschichtige Bedeutung eines grundlegenden Verständnisses der Dynamik komplexer Systeme zeigen theoretische Untersuchungen zu nichtlinearen Phänomenen an Oberflächen, bei denen das Rauschen die Information verstärken kann, was nicht nur in physikochemischen und technischen, sondern auch in biologischen Fragestellungen von äußerster Relevanz ist, denn so könnten Regelungsverfahren in der Biologie erklärt werden.